Zur Freundlichen Erinnerung | Page 8

Oscar Maria Graf
man zur Vesper für fünfzig
Pfennig Käse oder ein Stück Wurst haben muß mit Bier. Kaffee mit
einer Semmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon
wieder zwanzig Pfennig weniger.--
Außerdem kann man sich wöchentlich zweimal zu den Überstunden
melden. Sind auch wieder drei Mark fünfzig Pfennig für je eine Stunde.
Man macht jedesmal drei, sind zusammen wöchentlich einundzwanzig
Mark. Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's
meistens schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach
gleich ins Bett und schläft ein, hat gar keinen Hunger mehr.--
Zuletzt waren es schon sechshundert Mark. Sechshundert!
Und da kam die Lunge.
Und kurz darauf hätte es eine allgemeine Aufbesserung gegeben, weil
die Zigarettenfabrik Zuccalisto fünfundvierzig Prozent Dividende
verteilen konnte dieses Jahr und auch was tun wollte für ihre Arbeiter.

OHNE BLEIBE
Es war schneidend kalt.--
Der Schutzmann an der Ecke sah einem angeheiterten Doppelpaar
grießgrämig nach und knurrte mürrisch.
Durch den Gedanken, daß diese Leute nun in ihre warmen Stuben
heimgingen und vor dem Zubettgehen vielleicht noch heißen Tee
tranken und eine Kleinigkeit zu sich nahmen, hatte er sich davon
abbringen lassen, weiter auf und ab zu gehen und seine durchfrorenen
Beine durch zeitweiliges Stampfen einigermaßen warm zu erhalten.
Jetzt stach die Kälte doppelt quälend in allen seinen Gliedern.
Er knirschte verdrossen, zog seinen Kopf noch tiefer in den
aufgestülpten, starren Mantelkragen, bog mit sichtlicher Überwindung
die steifgewordenen Knie und ging wieder weiter.--
Die Stimmen der Spätlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde
wieder still. Wie ausgestorben dehnte sich das verlassene Geviert aus.
Düster und drückend ragten die Hauswände empor. Der Schnee fiel
dicht und sehr ruhig.--
Mißmutig schwenkte der Schutzmann in eine breitere Straße ein. Durch
die gleichmäßiger verteilte Schneefläche schien es hier heller und
weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weiße Eintönigkeit. Eine
strichhaft hagere Gestalt kam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf
noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorne
wie ein aufgezogenes Gespenst. Als er kaum noch fünf Schritte von
ihm entfernt war, hustete der Schutzmann sehr vernehmlich und hob
sein verärgertes Gesicht.
"Sie!" rief er dem Herankommenden gehässig laut entgegen und warf
sich in straffere Haltung.
Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schüttelte sie.
"Haben Sie Papiere?" fragte der Schutzmann, noch einen Schritt

machend, und musterte den Mann.
Der rührte sich nicht.
"Sie!!" brüllte der Schutzmann wie fluchend und leuchtete dem
Fremden mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in
bester dienstlicher Ordnung.
Ein harkiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg
ramponierte Säule konnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen
Blicks überflog sie der Polizist.
"Ihre Papiere!--Sind Sie denn taub!" schrie er abermals, wütend über
das Aufgehalten werden bei solcher Kälte, und setzte schnell, wie
witternd hinzu: "Oder haben Sie keine?"
Der Fremde zog endlich seine erstarrte Hand aus der tiefen
Hosentasche und reichte ihm die schmutzigen, durchnäßten Ausweise.
"Karl Pruvik, Klempnergehilfe" stand auf der überleuchteten
Invalidenkarte. Herkunft, Geburts--und letzter Dienstort und Datum
waren verzeichnet. Abgestempelte Marken klebten auf der ersten
Hälfte.
Der Schutzmann steckte das Papier unter den blauen Militärpaß und
schlug diesen auf.
"Infanterist Pruvik, Karl.--14. Regiment" orientierte die erste Seite.
"Verwundet bei Luneville (Armschuß rechts), desgleichen bei Tarnopol
(Knieschuß links), verwundet bei Verdun (Schulterschuß links)" war
im Anhang eingetragen, und so und soviele Gefechte und Schlachten
erwähnte das nächste Blatt.
Das Gesicht des Schutzmanns verlor mehr und mehr die stiere Härte,
hob sich etwas höher aus dem Mantelkragen.
"Hm!--Auch Kriegsteilnehmer? ... Ohne Bleibe, was?" sagte er mit
zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Dastehenden die Papiere

him. Dessen Gestalt schwankte ein klein wenig nach vorne.
"Hundekälte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schutzmann
noch loyaler und steckte dem Mann die Papiere hilfsbereit in die
Rocktasche: "Ist ja noch nicht so spät. Noch alles offen in der Stadt. Sie
kommen sicher unter!"
"So," sagte er eben, als in nächster Nähe die Uhr zehn schlug. Einen
Augenblick horchte er auf, nickte und entfernte sich eilsamen Schritts.
Schon von weitem erspähte er die Ablösung.
Karl Pruvik riß sich fest zusammen und schritt wieder weiter.
Der Schnee fiel und fiel.
Nach einer langen Weile wurde es endlich etwas lichter. Menschen
stapften vorüber. Grelle Autolaternen glotzten üher einen freien Platz.
Üher einem mächtigen Säulenportal leuchteten groß die Buchstaben
"Schauspielhaus".
Vielleicht vom Licht angezogen verschnellerte Karl Pruvik
unwillkürlich seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den
Theaterausgang zu. Eben strömte die Besucherschar aus den großen,
glitzernden Toren. Er befand sich im Nu mitten im dichtesten Gemeng
und drängte sich vorwärts. Eine warme Duftwelle schlug ihm entgegen,
starkgeschminkte Gesichter tauchten auf und seltsam kühne Reflexe
warf das grelle Licht auf glänzende, rauschende Damentoiletten.
Überschnell schwirrten geschäftige Stimmen ineinander,
Seidenrauschen, Lächeln, Autohupen und das fadendünne Zirpen
süßlicher Tonfälle vermischten sich zu einem betäubenden Geräusch.
"Einfach glänzend!" rief wer. "Rührend, wie die Hohlmann
spielt!--Nein, einfach entzückend!"
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 39
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.