Zum wilden Mann | Page 8

Wilhelm Raabe
plantarum historia schrieb und für alle
kommende Zeiten wie ein glorreich helles Licht aus dem dunklen
Jahrhundert, in welchem er lebte und wirkte, herüberleuchtete. Darauf
schickte er mich in re herbaria auf die Jagd und blieb selber seufzend
zu Hause, versorgte die Praxis und durchblätterte seine Kräuterbücher,
die wirklich merkwürdig in ihrer Art waren und nach seinem Tode
sicherlich auf den Mist geworfen sind. Zu jeder Jahreszeit fast hatte ich
für ihn das Land abzulaufen, denn er war auch in der Kenntnis der
Moose bedeutend, und in den Monaten, wo die übrige Flora in ihrer
Pracht steht, ging ich fast täglich meilenweit ins Land oder in die Berge,
um irgend eine einzige Pflanze zu suchen, auf deren Besitz und
Studium er augenblicklich sein Herz gewendet hatte. -- Das war eine
schöne Zeit! das waren Tage, wie ich sie seit Jahren nicht in so
ununterbrochen glücklicher Folge durchlebt hatte, und da ich, wie
gesagt, auch bald den Namen und das Bild meiner Braut mit mir auf die
Höhen und sonnigen Halden und in die schattigen Thäler nehmen
konnte, so ist denn weiter nichts mit dem Scheine zu vergleichen, wie
er mir damals über der Erde und in der Seele lag. Daß ich Rad durch
den Sonnenglanz auf den Bergen geschlagen hätte, will ich aber nicht
gesagt haben. Im Gegenteil! in die Lust am Leben machte sich immer
ein bänglicher Zug. Kam ich aus meinen Wäldern zurück in die kleine,
winklige Stadt, wieder hinein in das Gewirr und zänkische

Durcheinander selbst dieser wenigen Menschen, so wurde mir oft sogar
sehr bänglich zu Mute.«
»Das geht allen Leuten so, die ihr Geschäft viel im Freien aufhält, mir
auch!« sagte der Förster Ulebeule.
»Aber noch lange,« fuhr der Erzähler, ohne auf die Unterbrechung
weiter zu achten, fort, »noch lange war und blieb im Freien alles für
mich Gegenwart, und erst nach und nach wurde drinnen im Städtchen
alles Zukunft, sorgenvolle, angstvolle, nebelige Zukunft:
»Was soll denn eigentlich zuletzt aus dir und deinem Mädchen werden?
»Ich habe es schon gesagt, daß die richtige Schwerblütigkeit mich erst
im zweiten Jahre meines dortigen Aufenthalts übermannte. Im Anfange
blieben die trüben sorglosen Gedanken bei jedem Ausmarsche
innerhalb der alten Mauern der Stadt eingeschlossen zurück; erst nach
und nach begleiteten sie mich über das Weichbild hinaus und folgten
mir weiter und weiter, bis im dritten Frühlinge der dunkle Finger mir
überall auf meinen Wegen drohte und der Prinzipal die Bemerkung
machte, daß ich anfange, bedeutend abzumagern, und mich
wohlmeinend und besorgt an verschiedene nerven- und
magenstärkende Droguen unserer Materialkammer verwies.
»Ach, kein Arzneistoff konnte mir wieder zu vollerer Leibesrundung
verhelfen! Zwischen Hypochondrie und gutem Lebensmut hin- und
hergeworfen, schweifte ich umher, bis ich den Mann fand, der mir half!
»Meine Herren und lieben Freunde, in eben diesem Sommer machte ich
eine Bekanntschaft, eine seltsame, geheimnisvolle und, wie Johanne
sagte, eigentlich unheimliche Bekanntschaft. Ihr habe ich es zu danken,
daß ich heute der Besitzer dieser Apotheke >zum wilden Mann< bin,
und sie ist bis heute, -- ja bis heute, und also länger als dreißig Jahre
das ungelöste Rätsel, das Mysterium in meinem Leben geblieben --«
»Erzählen Sie, o erzählen Sie!« rief der Pastor atemlos, den Erzähler in
der besten raschesten Mitteilung seines Berichtes aus übergroßer
Spannung unterbrechend, und Herr Philipp Kristeller benutzte die

Gelegenheit, um Atem zu schöpfen, ehe er fortfuhr.
Es schien ihm aber wirklich daran gelegen zu sein, das Geheimnis
seines Lebens von der Seele los zu werden, und so fuhr er fort:
»Ich fand einfach einen Weggenossen und so zu sagen Kollegen auf
meinen Gängen, einen jungen wohlgekleideten Mann, der sich
gleichfalls mit der Botanik beschäftigte, nur um ein Weniges jünger als
ich zu sein schien und sich als ein Naturfreund und Pflanzenkenner
auswies, der selbst meinen Prinzipal im verständnisvollen Eindringen
in unsere hinreißende Wissenschaft übertraf. Aus der Gegend war er
nicht, seinen Namen haben wir nie recht erfahren; wir nannten ihn Herr
August und später auch einfach August. Sein Familienname war das
aber jedenfalls nicht.
»Der Zufall stieß uns an einem heißen Julinachmittage auf einer
abgeholzten, glühenden Berglehne unter den manneshohen
Fingerhutbüschen zwischen dem Gewirr der Granitblöcke die Köpfe
zusammen und ließ uns sofort höflich das Handwerk grüßen. Zuerst
begrüßten wir jedoch natürlich höflich uns selber und betrachteten
einander. Was der Fremde an mir sah, weiß ich nicht; mir steht er heute
noch so klar und deutlich wie damals vor den Augen. Es war ein junger
Mann, wie gesagt, ungefähr von meinem Alter, hochgewachsen,
wohlgebaut, von schwarzem Haar und mit einem ernsthaften,
energischen Gesicht von etwas gelbweißer, jedoch keineswegs
krankhafter Farbe. Den Kopf trug er ein wenig gesenkt, und seine
Stimme war wohllautend, er gebrauchte sie aber nur zu selten.
Während unseres ganzen Verkehrs überließ er es mir vollständig allein,
die Unterhaltung zu führen; und wie ihr wißt, liebe Nachbarn, bin ich
stets für einen lebhaften mündlichen Verkehr
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