Ihr lieben Freunde, wollt ihr
mich anhören, so will ich euch eine Geschichte erzählen, eine kuriose,
eine recht, recht kuriose Geschichte. Ich will euch erzählen, wie ich vor
mehr als dreißig Jahren der Besitzer der Apotheke >zum wilden Mann<
wurde.«
Der Pastor sagte gar nichts; aber auch er rückte näher an Herrn Philipp
heran, berührte ermunternd seinen Ellbogen und bot ihm zu noch
größerer Ermunterung die blank abgegriffene silberne Dose.
»Geschichten höre ich für mein Leben gern, selbst Jagdgeschichten im
Notfall!« rief der Förster eifrig. »Endlich ist das Wild los! hin nach der
Fährt --«
»Einen Augenblick!« bat Fräulein Dorette, »jetzt muß ich noch für eine
Minute in die Küche, nachher bin ich wieder ganz und gar bei dir,
Philipp. Die beiden Nachbarn entschuldigen wohl.«
Sie entschuldigten gern und warteten und machten noch einige
Bemerkungen über die Jahreszeit und die Witterung. Nachdem aber die
Schwester zurückgekommen war, erzählte der Bruder wirklich seine
Geschichte -- eine kuriose Geschichte!
Viertes Kapitel.
»Liebe, gute, treue Freunde und Nachbarn,« begann der Mann, der
nach der Meinung des Försters Ulebeule es zu etwas im Leben gebracht,
d. h. etwas vor sich gebracht hatte im Dorfe, »ich habe, ehe ihr kamet,
von der alten Zeit verlockt, schon zweimal meinen Archivkasten da in
der Offizin geöffnet und habe den Staub von der Vergangenheit
geblasen; jetzt werde ich wohl noch ein Dokument daraus hervorholen
müssen. Trotz aller wunderlichen Geheimnisse liegt mein Geschick
vollständig klar auf dem Papiere da; nicht etwa daß ich ein Tagebuch
oder dergleichen geführt hätte, sondern in wirklichen authentischen
Schriftstücken, die ich euch dann auch nachher zu eigener
Begutachtung in die Hände geben werde.
»Mein Vater hatte mir einige Tausend Thaler hinterlassen; aber mein
Vormund, ein gutmütiger, wohlmeinender, doch höchst zerfahrener und
leichtsinniger Mann, hatte wenig auf dieselben Achtung gegeben. Als
ich das Geld gebrauchen konnte, war es bis auf ein Minimum
verschwunden, und der Vormund legte mir schluchzend das Bekenntnis
ab: er wisse am allerwenigsten, wo es geblieben sei. Übrigens fügte er
zu meinem Troste hinzu: mit seinem eigenen Vermögen sei es ihm
gerade so ergangen. Er war ein ältlicher Herr mit drei unverheirateten
ältlichen Töchtern, und alle waren meine besten Freunde; -- was blieb
mir also übrig, als mit ihnen zu weinen und so auch meinerseits das
trockene Faktum in gegenseitiger Liebe und Zuneigung feucht zu
erhalten. Die drei guten Mädchen sorgten für meine Wäsche und
sonstige Ausstattung, packten mir meinen Koffer, und so zog ich nach
abgethaner Lehrzeit als voraussichtlich ewiges Subjekt ins
Laborantentum hinein und trieb mich fünf oder sechs Jahre lang so
umher durch Süß und Sauer, von einer Epidemie in die andere, von
einem nächtlichen Aufgeklingeltwerden zum andern, von einer
Doktorpfote zur andern, bis ich nach * * * kam, wo ich meine Johanne
kennen lernte. Da, Freund Ulebeule, habe ich wirklich etwas vor mich
gebracht, nämlich die einzigen guten, glücklichen Tage meines
Lebens!«
»Gratuliere auch dazu,« brummte der Förster.
»Ja, in die glückliche Zeit meines Daseins war ich hineingeraten, und
es stimmte alles zusammen -- ein ganzes Jahr lang!
»Ich hatte es in jeder Beziehung gut. Mein damaliger Prinzipal war ein
drolliger alter Kauz, über den ich etwas mehr sagen muß; denn er
verdient das, meinet- wie seinethalben in jeder Beziehung. Er war
Apotheker mit Liebe; aber mit einem gewissen Wahnsinn ein
Enthusiast für die hohe Wissenschaft Botanik, und er war in der That
ein bedeutender Pflanzenkundiger. So lange es anging, hatte er seine
Provisoren und Gehilfen die Offizin versorgen lassen und war selber in
Wald und Feld seinem Lieblingsstudium nachgegangen. Als ich aber in
sein Haus eintrat, hatte sich das eben geändert. Er war über sechzig
Jahre alt, seine Augen waren allmählich schwach geworden, sein
Rücken steif; und wenn er sich zwischen Berg und Thal nach einem
Gewächs bückte, so kam er nur mit Stöhnen und einem verdrießlichen
Griff nach dem Kreuz wieder in die Höhe. Ich kam, und er stellte ein
botanisches Examen mit mir an, das an Schärfe nichts zu wünschen
übrig ließ, gottlob aber ziemlich gut ausfiel, und von dem all' mein
späteres Wohlsein in seinem Hause den Ausgang nahm. Nach dem
Examen überreichte er mir als Zeichen seiner Zufriedenheit ein
Exemplar von Stöver's Leben des Ritters Karl von Linné und hielt mir
eine Rede über die Märtyrer unserer >Göttin<, und empfahl mir
vorzüglich zur Nachahmung das größte botanische Genie des
sechzehnten Jahrhunderts, den Meister Charles de l'Ecluse, -- Carolus
Clusius aus Arras in den Niederlanden, der im Dienste der
Wissenschaft im vierundzwanzigsten Jahre die Wassersucht bekam, im
neununddreißigsten Jahre in Spanien mit dem Pferde stürzte und den
Arm brach und gleich nach der Heilung den rechten Schenkel; -- der im
fünfundfünfzigsten Jahre in Wien den linken Fuß brach und acht Jahre
später sich die rechte Hüfte verrenkte, -- der fortan an Krücken gehen
mußte, einen Bruch und Steinschmerzen bekam und doch das
wundervolle Buch: Variarum

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