können? Bin ich mit dem Knaben nicht 
eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? Ich zog das liebe 
Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei hab ich es aufs 
grausamste vernachlässigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es 
so sehr strebte? Nichts! Ich überließ es sich selbst und allen 
Zufälligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur 
ausgesetzt sein konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so 
merkwürdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein 
Herz geheißen, auch nur jemals das geringste für ihn zu tun? Es ist 
nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer 
vergeudest; nimm dich zusammen, und denke, was du für dich und die 
guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich 
knüpfte." 
Eigentlich war dieses Selbstgespräch nur eine Einleitung, sich zu 
bekennen, daß er schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewählt hatte; er 
konnte nicht länger zögern, sich es selbst zu gestehen. Nach oft 
vergebens wiederholtem Schmerz über den Verlust Marianens fühlte er 
nur zu deutlich, daß er eine Mutter für den Knaben suchen müsse und 
daß er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde. Er kannte dieses 
vortreffliche Frauenzimmer ganz. Eine solche Gattin und Gehülfin 
schien die einzige zu sein, der man sich und die Seinen anvertrauen 
könnte. Ihre edle Neigung zu Lothario machte ihm keine
Bedenklichkeit. Sie waren durch ein sonderbares Schicksal auf ewig 
getrennt, Therese hielt sich für frei und hatte von einer Heirat zwar mit 
Gleichgültigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich von 
selbst versteht. 
Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, nahm er sich vor, ihr 
von sich zu sagen, soviel er nur wußte. Sie sollte ihn kennenlernen, wie 
er sie kannte, und er fing nun an, seine eigene Geschichte 
durchzudenken; sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im ganzen 
jedes Bekenntnis so wenig zu seinem Vorteil, daß er mehr als einmal 
von dem Vorsatz abzustehn im Begriff war. Endlich entschloß er sich, 
die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen; 
dieser sagte: "Es ist eben zur rechten Zeit", und Wilhelm erhielt sie. 
Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch mit 
Bewußtsein auf dem Punkte steht, wo er über sich selbst aufgeklärt 
werden soll. Alle übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht 
Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel! 
Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des 
vergangenen übels. Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die 
Umstände hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen, seine Freunde 
hatten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit 
einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. 
Er fand die umständliche Geschichte seines Lebens in großen, scharfen 
Zügen geschildert; weder einzelne Begebenheiten noch beschränkte 
Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle 
Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er 
sah zum erstenmal sein Bild außer sich, zwar nicht wie im Spiegel ein 
zweites Selbst, sondern wie im Porträt ein anderes Selbst: man bekennt 
sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut sich, daß ein denkender 
Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat darstellen wollen, 
daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht und daß es länger 
als wir selbst dauern kann. 
Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem alle Umstände durch dies 
Manuskript in sein Gedächtnis zurückkamen, die Geschichte seines 
Lebens für Theresen aufzusetzen, und er schämte sich fast, daß er
gegen ihre großen Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine 
zweckmäßige Tätigkeit beweisen konnte. So umständlich er in dem 
Aufsatze war, so kurz faßte er sich in dem Briefe, den er an sie schrieb; 
er bat sie um ihre Freundschaft, um ihre Liebe, wenn's möglich wäre; er 
bot ihr seine Hand an und bat sie um baldige Entscheidung. 
Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst 
mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbe, beraten solle, entschied 
er sich zu schweigen. Er war zu fest entschlossen, die Sache war für ihn 
zu wichtig, als daß er sie noch hätte dem Urteil des vernünftigsten und 
besten Mannes unterwerfen mögen; ja sogar brauchte er die Vorsicht, 
seinen Brief auf der nächsten Post selbst zu bestellen. Vielleicht hatte 
ihm der Gedanke, daß er in so vielen Umständen seines Lebens, in 
denen er frei und im verborgenen zu handeln glaubte, beobachtet, ja 
sogar geleitet worden war, wie ihm aus der geschriebenen Rolle nicht 
undeutlich erschien, eine Art von unangenehmer Empfindung gegeben, 
und nun wollte er wenigstens zu Theresens Herzen rein vom Herzen 
reden und ihrer Entschließung und Entscheidung sein Schicksal 
schuldig sein, und so machte er sich kein Gewissen, seine Wächter und 
Aufseher in diesem wichtigen Punkte wenigstens zu umgehen. 
 
VIII. Buch, 2. Kapitel--1 
    
    
		
	
	
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