Zweites Kapitel 
Kaum war der Brief abgesendet, als Lothario zurückkam. Jedermann 
freuete sich, die vorbereiteten wichtigen Geschäfte abgeschlossen und 
bald geendigt zu sehen, und Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie so 
viele Fäden teils neu geknüpft, teils aufgelöst und nun sein eignes 
Verhältnis auf die Zukunft bestimmt werden sollte. Lothario begrüßte 
sie alle aufs beste; er war völlig wiederhergestellt und heiter, er hatte 
das Ansehen eines Mannes, der weiß, was er tun soll, und dem in allem, 
was er tun will, nichts im Wege steht. 
Wilhelm konnte ihm seinen herzlichen Gruß nicht zurückgeben. "Dies
ist", mußte er zu sich selbst sagen, "der Freund, der Geliebte, der 
Bräutigam Theresens, an dessen Statt du dich einzudrängen denkst. 
Glaubst du denn jemals einen solchen Eindruck auszulöschen oder zu 
verbannen?" Wäre der Brief noch nicht fort gewesen, er hätte vielleicht 
nicht gewagt, ihn abzusenden. Glücklicherweise war der Wurf schon 
getan, vielleicht war Therese schon entschieden, nur die Entfernung 
deckte noch eine glückliche Vollendung mit ihrem Schleier. Gewinn 
und Verlust mußten sich bald entscheiden. Er suchte sich durch alle 
diese Betrachtungen zu beruhigen, und doch waren die Bewegungen 
seines Herzens beinahe fieberhaft. Nur wenig Aufmerksamkeit konnte 
er auf das wichtige Geschäft wenden, woran gewissermaßen das 
Schicksal seines ganzen Vermögens hing. Ach! wie unbedeutend 
erscheint dem Menschen in leidenschaftlichen Augenblicken alles, was 
ihn umgibt, alles, was ihm angehört! 
Zu seinem Glücke behandelte Lothario die Sache groß, und Werner mit 
Leichtigkeit. Dieser hatte bei seiner heftigen Begierde zum Erwerb eine 
lebhafte Freude über den schönen Besitz, der ihm oder vielmehr seinem 
Freunde werden sollte. Lothario von seiner Seite schien ganz andere 
Betrachtungen zu machen. "Ich kann mich nicht sowohl über einen 
Besitz freuen", sagte er, "als über die Rechtmäßigkeit desselben." 
"Nun, beim Himmel!" rief Werner, "wird denn dieser unser Besitz nicht 
rechtmäßig genug?" 
"Nicht ganz!" versetzte Lothario. 
"Geben wir denn nicht unser bares Geld dafür?" 
"Recht gut!" sagte Lothario, "auch werden Sie dasjenige, was ich zu 
erinnern habe, vielleicht für einen leeren Skrupel halten. Mir kommt 
kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen 
schuldigen Teil abträgt." 
"Wie?" sagte Werner, "so wollten Sie also lieber, daß unsere frei 
gekauften Güter steuerbar wären?" 
"Ja", versetzte Lothario, "bis auf einen gewissen Grad: denn durch
diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen entsteht ganz allein die 
Sicherheit des Besitzes. Was hat der Bauer in den neuern Zeiten, wo so 
viele Begriffe schwankend werden, für einen Hauptanlaß, den Besitz 
des Edelmanns für weniger gegründet anzusehen als den seinigen? Nur 
den, daß jener nicht belastet ist und auf ihn lastet." 
"Wie wird es aber mit den Zinsen unseres Kapitals aussehen?" 
versetzte Werner. 
"Um nichts schlimmer!" sagte Lothario, "wenn uns der Staat gegen 
eine billige, regelmäßige Abgabe das Lehns-Hokuspokus erlassen und 
uns mit unsern Gütern nach Belieben zu schalten erlauben wollte, daß 
wir sie nicht in so großen Massen zusammenhalten müßten, daß wir sie 
unter unsere Kinder gleicher verteilen könnten, um alle in eine lebhafte, 
freie Tätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und 
beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir 
immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen. Wieviel 
glücklicher wären Männer und Frauen, wenn sie mit freien Augen 
umhergehen und bald ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen 
Jüngling ohne andere Rücksichten durch ihre Wahl erheben könnten. 
Der Staat würde mehr, vielleicht bessere Bürger haben und nicht so oft 
um Köpfe und Hände verlegen sein." 
"Ich kann Sie versichern", sagte Werner, "daß ich in meinem Leben nie 
an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich 
nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist." 
"Nun", sagte Lothario, "ich hoffe Sie noch zum guten Patrioten zu 
machen: denn wie der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst seinen 
Kindern vorlegt, so ist der nur ein guter Bürger, der vor allen andern 
Ausgaben das, was er dem Staate zu entrichten hat, zurücklegt." 
Durch solche allgemeine Betrachtungen wurden ihre besondern 
Geschäfte nicht aufgehalten, vielmehr beschleunigt. Als sie ziemlich 
damit zustande waren, sagte Lothario zu Wilhelmen: "Ich muß Sie nun 
an einen Ort schicken, wo Sie nötiger sind als hier: meine Schwester 
läßt Sie ersuchen, so bald als möglich zu ihr zu kommen; die arme 
Mignon scheint sich zu verzehren, und man glaubt, Ihre Gegenwart
könnte vielleicht noch dem übel Einhalt tun. Meine Schwester schickte 
mir dieses Billett noch nach, woraus Sie sehen können, wieviel ihr 
daran gelegen ist." Lothario überreichte ihm ein Blättchen. Wilhelm, 
der schon in der größten Verlegenheit zugehört hatte, erkannte sogleich 
an diesen flüchtigen Bleistiftzügen die Hand der Gräfin und wußte 
nicht, was er antworten sollte. 
"Nehmen Sie Felix mit", sagte Lothario, "damit die Kinder sich 
untereinander aufheitern. Sie müßten morgen früh beizeiten weg; der 
Wagen meiner Schwester, in welchem meine Leute hergefahren sind, 
ist noch hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben Weg, dann nehmen 
Sie Post. Leben Sie recht wohl und richten viele Grüße    
    
		
	
	
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