und war eingeschlafen. "Was ist 
das für ein Wurm?" fragte Werner. Wilhelm hatte in dem Augenblicke 
den Mut nicht, die Wahrheit zu sagen, noch Lust, eine doch immer 
zweideutige Geschichte einem Manne zu erzählen, der von Natur nichts 
weniger als gläubig war. 
Die ganze Gesellschaft begab sich nunmehr auf die Güter, um sie zu 
besehen und den Handel abzuschließen. Wilhelm ließ seinen Felix 
nicht von der Seite und freute sich um des Knaben willen recht lebhaft 
des Besitzes, dem man entgegensah. Die Lüsternheit des Kindes nach 
den Kirschen und Beeren, die bald reif werden sollten, erinnerte ihn an 
die Zeit seiner Jugend und an die vielfache Pflicht des Vaters, den 
Seinigen den Genuß vorzubereiten, zu verschaffen und zu erhalten. Mit 
welchem Interesse betrachtete er die Baumschulen und die Gebäude! 
Wie lebhaft sann er darauf, das Vernachlässigte wiederherzustellen und 
das Verfallene zu erneuern! Er sah die Welt nicht mehr wie ein 
Zugvogel an, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind 
zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles, 
was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und 
alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. 
In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl 
des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben. Er 
fühlte es, und seiner Freude konnte nichts gleichen. "O der unnötigen 
Strenge der Moral!" rief er aus, "da die Natur uns auf ihre liebliche 
Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O der seltsamen 
Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und 
mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe 
jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung 
zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege 
selbst zu beglücken!"
So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien 
ihm doch die menschliche Natur erst durch die Beobachtung des 
Kindes deutlich zu werden. Das Theater war ihm, wie die Welt, nur als 
eine Menge ausgeschütteter Würfel vorgekommen, deren jeder einzeln 
auf seiner Oberfläche bald mehr, bald weniger bedeutet und die 
allenfalls zusammengezählt eine Summe machen. Hier im Kinde lag 
ihm, konnte man sagen, ein einzelner Würfel vor, auf dessen vielfachen 
Seiten der Wert und der Unwert der menschlichen Natur so deutlich 
eingegraben war. 
Das Verlangen des Kindes nach Unterscheidung wuchs mit jedem Tage. 
Da es einmal erfahren hatte, daß die Dinge Namen haben, so wollte es 
auch den Namen von allem hören; es glaubte nicht anders, sein Vater 
müsse alles wissen, quälte ihn oft mit Fragen und gab ihm Anlaß, sich 
nach Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig 
Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auch der eingeborne Trieb, die 
Herkunft und das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte sich frühe bei dem 
Knaben. Wenn er fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme 
hinkomme, war dem Vater seine eigene Beschränkung erst recht 
lebendig; er wünschte zu erfahren, wie weit sich der Mensch mit seinen 
Gedanken wagen und wovon er hoffen dürfe sich und andern jemals 
Rechenschaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes, wenn es 
irgendeinem lebendigen Wesen Unrecht geschehen sah, erfreute den 
Vater höchlich als das Zeichen eines trefflichen Gemüts. Das Kind 
schlug heftig nach dem Küchenmädchen, das einige Tauben 
abgeschnitten hatte. Dieser schöne Begriff wurde denn freilich bald 
wieder zerstört, als er den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit 
Frösche totschlug und Schmetterlinge zerrupfte. Es erinnerte ihn dieser 
Zug an so viele Menschen, die höchst gerecht erscheinen, wenn sie 
ohne Leidenschaft sind und die Handlungen anderer beobachten. 
Dieses angenehme Gefühl, daß der Knabe so einen schönen und 
wahren Einfluß auf sein Dasein habe, ward einen Augenblick gestört, 
als Wilhelm in kurzem bemerkte, daß wirklich der Knabe mehr ihn als 
er den Knaben erziehe. Er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er 
war nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst 
nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte,
waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre 
alten Rechte getreten. Noch machte das Kind die Türe niemals hinter 
sich zu, noch wollte er seinen Teller nicht abessen, und sein Behagen 
war niemals größer, als wenn man ihm nachsah, daß er den Bissen 
unmittelbar aus der Schüssel nehmen, das volle Glas stehenlassen und 
aus der Flasche trinken konnte. So war er auch ganz allerliebst, wenn er 
sich mit einem Buche in die Ecke setzte und sehr ernsthaft sagte: "Ich 
muß das gelehrte Zeug studieren!", ob er gleich die Buchstaben noch 
lange weder unterscheiden konnte noch wollte. 
Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher für das Kind getan hatte, 
wie wenig er zu tun fähig sei, so entstand eine Unruhe in ihm, die sein 
ganzes Glück aufzuwiegen imstande war. "Sind wir Männer denn", 
sagte er zu sich, "so selbstisch geboren, daß wir unmöglich für ein 
Wesen außer uns Sorge tragen    
    
		
	
	
	Continue reading on your phone by scaning this QR Code
 
	 	
	
	
	    Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the 
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.
	    
	    
