der Ethischen Gesellschaft festhielt: 
sich offiziell keiner Partei anzuschließen. Wir gerieten während der 
Eisenbahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte. 
»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des 
Sozialismus außerhalb der politischen Organisation weit mehr und 
nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder
wären,« sagte er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht im 
Kleinkram des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir sonst von 
vornherein auf Mißtrauen stoßen würden.« 
»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geschlossenem 
Visier kämpfen und unsere Überzeugungen durch Hintertüren in die 
Häuser tragen?« rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling 
und ein Betrüger!« 
Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der ganze Sozialismus 
sich in der Partei konzentriert, zu dieser Empfindung ein Recht haben, 
bei uns gibt es nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur 
annähernd ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, um uns 
herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie werden daher unseren 
Sozialismus und seine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner 
Vereine beurteilen müssen, sondern nach den Scharen freier Sozialisten, 
die in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.« 
Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse fiel mir 
plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der 
sich, wie es schien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine 
Frage dazwischen, um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten 
Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder reihte sich vor mir 
auf: von der Ethischen Gesellschaft an, deren Sprecher er war, bis zu 
den politischen Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen 
Koalition gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. Ich war 
ganz benommen, als wir uns London näherten. 
Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben 
Fensterscheiben und dünnen schwarzen Schornsteinen; sie schoben sich 
rechts und links zusammen, enger und enger, sie verdrängten 
schließlich das letzte Streifchen grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend 
wie Riesenwürmer, wanden sich unten die Straßen zwischen den 
Mauern. Ein schmutzig-grauer Nebel umhüllte alles, nicht wie ein 
Schleier, der phantastische Vorstellungen von dahinter verborgener 
Schönheit zu wecken vermag, -- wie ein nasses Tuch vielmehr, das die 
Häßlichkeit der Formen betont und jede Farbe verwischt, die sie 
mildern könnte. In der Bahnhofshalle brannten die Bogenlampen, sie
wirkten wie flackernde Öllämpchen im Dunkel eines Kohlenbergwerks. 
Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen und schwerfällige 
Omnibusse, Reiter und Radler schoben und drängten sich hin und her, 
kein Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den Bürgersteigen 
daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, nur auf das eigene 
Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links. 
Selbst die Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da war 
keiner, der Zeit hatte --, unsichtbar schienen in der Menge die 
Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu schwingen. 
Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur für das 
kommende Leben?! 
»Westminster! -- das Parlament,« hörte ich meinen Begleiter sagen. Ich 
blickte auf. An einem Palast mit gotischen Türmen und Fenstern fuhr 
der Wagen langsam vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter 
hohen Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden Strom. 
Schüchterne Sonnenstrahlen brachen durch den Nebel, leuchteten durch 
das feine gotische Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, sprangen 
hinüber zu der altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster 
aufglühen, als stünde sie im Feuer. 
Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem Parlament, einfach 
und still wie eine Dorfstraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel. 
Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes Haus den 
Besuchern des Frauenkongresses zur Verfügung gestellt. Sie empfingen 
mich so herzlich, als wären wir alte Freunde. Man versammelte sich 
grade zum Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so feierlich? 
Selbst Stratford legte das Gesicht in würdevolle Falten, -- fünf 
himmelblau gekleidete Dienstmädchen traten ein, -- ein Harmonium 
ertönte, -- helle Stimmen sangen einen Choral. Dann las der Hausherr 
mit dem Tonfall katholischer Priester einen Bibelabschnitt, -- ein Gebet 
folgte. Alles kniete nieder, den Kopf in den Händen vergraben, -- auch 
Stratford, Georgs Freund, der Atheist. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor 
innerem Zorn; ich allein blieb stehen. 
»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete.
»Es ist ja nur eine Form!« 
»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache 
erhalten!« 
* * * * * 
Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der 
ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter 
Mädchen, mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust, 
bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht 
war der Riesenraum getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten 
und dufteten rings umher. In großer Toilette erschienen die 
Delegiertinnen, bei jeder Eintretenden ging ihr Name flüsternd von 
Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so kannten sie sich 
untereinander und begrüßten sich wie alte Kriegskameraden. Ich kam 
allein in meinem schwarzen Trauerkleid, über das der Witwenschleier 
schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum um mich, als    
    
		
	
	
	Continue reading on your phone by scaning this QR Code
 
	 	
	
	
	    Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the 
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.
	    
	    
