ob meine 
dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich stieße. Mich kannte 
niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer ist das?« schlug an mein Ohr. 
Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen, und jede von 
ihnen begrüßte im Namen ihres Heimatlandes die wogende 
Menschenmasse unter uns. Da waren sie alle, die alten 
Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas und Australiens, die ihrem 
Geschlecht die Hörsäle der Universitäten und die Pforten zum 
Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der weichen 
Madonnengesichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens formt, 
schmale, scharf geschnittene Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern 
meißelt; statt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und 
Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten, 
leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle 
Abgründe sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die 
noch immer Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden 
Märchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den 
schlanken braunen Leib in weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die 
einen von ihren Triumphen, klagend die anderen von ihren Leiden, -- 
Triumphen auf dem Gebiete des wissenschaftlichen, des sozialen, des
politischen Lebens, -- Leiden, hervorgerufen durch sexuelle, soziale 
und rechtliche Unterdrückung, als ob Befreiung und Not ihres 
Geschlechtes damit erschöpft wären. Immer heftiger schlug mir das 
Herz: ich sah wie im Traum vor den Türen dieses glänzenden Saales 
Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie 
Werkstätten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr elendes 
Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die weiße 
brillantengeschmückte Hand der Präsidentin sich mit einer leise 
bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, während sie 
von Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten für 
ihre politische Gleichstellung sprach, da wußte ich, was ich zu sagen 
hatte. 
»Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider 
nähen, haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre 
Abgesandte und nur als die ihre.« 
Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, -- galt er nicht mehr meinem 
gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? 
Mit einem Blick voll Geringschätzung streifte ich die elegante 
Zuhörerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen --, dachte 
ich. 
»Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche Frau, die in 
öffentlicher Versammlung das Stimmrecht für ihr Geschlecht gefordert 
habe. Ich muß dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche 
Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen 
Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der 
Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu 
Dank verpflichtet sind: August Bebel.« 
Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen 
erhoben sich alle Hände zu einmütigem Applaus, und selbst die Damen 
des Präsidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands 
befanden, lächelten mir freundlich zu. 
Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ältere Frau entgegen. 
In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die
Arbeiterin. »Ich bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als 
Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich 
gab meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das 
Erlebte. Sie lachte geringschätzig. »Was wollen Sie?! Wir sind in 
England! Wenn ein Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, 
so gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird 
sich um Sie reißen. Für unsere Sache aber hat das gar keine 
Bedeutung.« Sie nannte mir ihren Namen -- Amie Hicks -- und ihre 
Wohnung, fern im äußersten Norden Londons. »Besuchen Sie mich 
einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise führen.« 
Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß 
und seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte 
zwar oft; nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem 
Wege zu gehen, mit denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und 
geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu 
gewinnen. 
In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das 
Blut oft siedendheiß in die Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal 
war mir als Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt 
worden, aber schon vom nächsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu 
erwarten als meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich 
hatte kaum an den pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine 
Redaktionsstellungen aufgab. Nun hieß es: arbeiten, 
zusammenschreiben, was ich zum Leben nötig hatte. Ich wußte nicht 
einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig gerechnet. Wie 
gut, daß mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den Luxus der 
anderen mitzumachen. 
Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Major an, der uns 
mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich würdevollen Stellung 
empfing, wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. 
Hinaus aufs Land führten uns Extrazüge, -- jenes Land voll rührender, 
weicher Schönheit, mit seinen grünen, sanft geschwungenen Hügeln, 
seinen dunklen Buchengruppen und stillen, rosenumsponnenen 
Häusern. Fast unmerklich für Auge und Sinn geht die freie Natur in den
Blumengarten, in den Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr 
mit allen Mitteln mühsam aufgezwungene Kultur oft so verletzend 
wirkt wie protziger Reichtum neben dürrer Armut.    
    
		
	
	
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