Frau Bovary | Page 2

Gustave Flaubert
Rakete, die im Verlöschen immer
wieder noch ein paar Funken sprüht.
Währenddem ward unter einem Hagel von Strafarbeiten die Ordnung in
der Klasse allmählich wiedergewonnen, und es gelang dem Lehrer, den
Namen »Karl Bovary« festzustellen, nachdem er sich ihn hatte
diktieren, buchstabieren und dann noch einmal im ganzen wiederholen
lassen. Alsdann befahl er dem armen Schelm, sich auf die Strafbank
dicht vor dem Katheder zu setzen. Der Junge wollte den Befehl
ausführen, aber kaum hatte er sich in Gang gesetzt, als er bereits wieder
stehen blieb.
»Was suchst du?« fragte der Lehrer.
»Meine Mü...«, sagte er schüchtern, indem er mit scheuen Blicken
Umschau hielt.
»Fünfhundert Verse die ganze Klasse!«
Wie das Quos ego bändigte die Stimme, die diese Worte wütend ausrief,
einen neuen Sturm im Entstehen.
»Ich bitte mir Ruhe aus!« fuhr der empörte Schulmeister fort, während
er sich mit seinem Taschentuche den Schweiß von der Stirne trocknete.
»Und du, du Rekrut du, du schreibst mir zwanzigmal den Satz auf:
Ridiculus sum!« Sein Zorn ließ nach. »Na, und deine Mütze wirst du
schon wiederfinden. Die hat dir niemand gestohlen.«
Alles ward wieder ruhig. Die Köpfe versanken in den Heften, und der
Neuling verharrte zwei Stunden lang in musterhafter Haltung, obgleich
ihm von Zeit zu Zeit mit einem Federhalter abgeschwuppte kleine
Papierkugeln ins Gesicht flogen. Er wischte sich jedesmal mit der Hand
ab, ohne sich weiter zu bewegen noch die Augen aufzuschlagen.
Abends, im Arbeitssaal, holte er seine Ärmelschoner aus seinem Pult,
brachte seine Habseligkeiten in Ordnung und liniierte sich sorgsam sein
Schreibpapier. Die andern beobachteten, wie er gewissenhaft arbeitete;
er schlug alle Wörter im Wörterbuche nach und gab sich viel Mühe.
Zweifellos verdankte er es dem großen Fleiße, den er an den Tag legte,
daß man ihn nicht in der Quinta zurückbehielt; denn wenn er auch die
Regeln ganz leidlich wußte, so verstand er sich doch nicht gewandt
auszudrücken. Der Pfarrer seines Heimatdorfes hatte ihm kaum ein
bißchen Latein beigebracht, und aus Sparsamkeit war er von seinen
Eltern so spät wie nur möglich auf das Gymnasium geschickt worden.
Sein Vater, Karl Dionys Barthel Bovary, war Stabsarzt a.D.; er hatte

sich um 1812 bei den Aushebungen etwas zuschulden kommen lassen,
worauf er den Abschied nehmen mußte. Er setzte nunmehr seine
körperlichen Vorzüge in bare Münze um und ergatterte sich im
Handumdrehen eine Mitgift von sechzigtausend Franken, die ihm in
der Person der Tochter eines Hutfabrikanten in den Weg kam. Das
Mädchen hatte sich in den hübschen Mann verliebt. Er war ein
Schwerenöter und Prahlhans, der sporenklingend einherstolzierte,
Schnurr- und Backenbart trug, die Hände voller Ringe hatte und in
seiner Kleidung auffällige Farben liebte. Neben seinem Haudegentum
besaß er das gewandte Getue eines Ellenreiters. Sobald er verheiratet
war, begann er zwei, drei Jahre auf Kosten seiner Frau zu leben, aß und
trank gut, schlief bis in den halben Tag hinein und rauchte aus langen
Porzellanpfeifen. Nachts pflegte er sehr spät heimzukommen, nachdem
er sich in Kaffeehäusern herumgetrieben hatte. Als sein Schwiegervater
starb und nur wenig hinterließ, war Bovary empört darüber. Er
übernahm die Fabrik, büßte aber Geld dabei ein, und so zog er sich
schließlich auf das Land zurück, wovon er sich goldne Berge erträumte.
Aber er verstand von der Landwirtschaft auch nicht mehr als von der
Hutmacherei, ritt lieber spazieren, als daß er seine Pferde zur Arbeit
einspannen ließ, trank seinen Apfelwein flaschenweise selber, anstatt
ihn in Fässern zu verkaufen, ließ das fetteste Geflügel in den eignen
Magen gelangen und schmierte sich mit dem Speck seiner Schweine
seine Jagdstiefel. Auf diesem Wege sah er zu guter Letzt ein, daß es am
tunlichsten für ihn sei, sich in keinerlei Geschäfte mehr einzulassen.
Für zweihundert Franken Jahrespacht mietete er nun in einem Dorfe im
Grenzgebiete von Caux und der Pikardie ein Grundstück, halb
Bauernhof, halb Herrenhaus. Dahin zog er sich zurück, fünfundvierzig
Jahre alt, mit Gott und der Welt zerfallen, gallig und mißgünstig zu
jedermann. Von den Menschen angeekelt, wie er sagte, wollte er in
Frieden für sich hinleben.
Seine Frau war dereinst toll verliebt in ihn gewesen. Aber unter tausend
Demütigungen starb ihre Liebe doch rettungslos. Ehedem heiter,
mitteilsam und herzlich, war sie allmählich (just wie sich abgestandner
Wein zu Essig wandelt) mürrisch, zänkisch und nervös geworden.
Ohne zu klagen, hatte sie viel gelitten, wenn sie immer wieder sah, wie
ihr Mann hinter allen Dorfdirnen her war und abends müde und nach
Fusel stinkend aus irgendwelcher Spelunke zu ihr nach Haus kam. Ihr

Stolz hatte sich zunächst mächtig geregt, aber schließlich schwieg sie,
würgte ihren Grimm in stummem Stoizismus hinunter und beherrschte
sich bis zu ihrem letzten Stündlein. Sie war unablässig tätig und immer
auf dem Posten. Sie war es, die zu den Anwälten und Behörden ging.
Sie wußte, wenn Wechsel fällig waren; sie erwirkte ihre Verlängerung.
Sie machte alle Hausarbeiten, nähte, wusch, beaufsichtigte die Arbeiter
und führte die Bücher, während der Herr und
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