übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch 
gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst 
erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht 
nicht nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der 
überspäten Cultur? Giebt es vielleicht - eine Frage für Irrenärzte - 
Neurosen der Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? 
Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus
welchem Selbsterlebniss, auf welchen Drang hin musste sich der 
Grieche den dionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr 
denken? Und was den Ursprung des tragischen Chors betrifft: gab es in 
jenen Jahrhunderten, wo der griechische Leib blühte, die griechische 
Seele von Leben überschäumte, vielleicht endemische Entzückungen? 
Visionen und Hallucinationen, welche sich ganzen Gemeinden, ganzen 
Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn die Griechen, gerade im 
Reichthum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen hatten und 
Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort 
Plato's zu gebrauchen, der die grössten Segnungen über Hellas gebracht 
hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen gerade in 
den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer optimistischer, 
oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik und Logisirung 
der Welt brünstiger, also zugleich "heiterer" und "wissenschaftlicher" 
wurden? Wie? könnte vielleicht, allen "modernen Ideen" und 
Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des 
Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der 
praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, 
mit der er gleichzeitig ist, - ein Symptom der absinkenden Kraft, des 
nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und gerade 
nicht - der Pessimismus? War Epikur ein Optimist - gerade als 
Leidender? - - Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit 
dem sich dieses Buch belastet hat, - fügen wir seine schwerste Frage 
noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, - die 
Moral? . . . 
5. 
Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die 
Moral - als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen 
hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, 
dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt 
ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und - 
Hintersinn hinter allem Geschehen, - einen "Gott", wenn man will, aber 
gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen 
Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im 
Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden
will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und Ueberfülle, 
vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die Welt, in jedem 
Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes, als die ewig wechselnde, 
ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, 
Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu erlösen weiss: diese 
ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch 
nennen -, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verräth, 
der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung 
und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier kündigt 
sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus "jenseits von Gut und 
Böse" an, hier kommt jene "Perversität der Gesinnung" zu Wort und 
Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, im 
Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, - eine 
Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der 
Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die 
"Erscheinungen" (im Sinne des idealistischen terminus technicus), 
sondern unter die "Täuschungen", als Schein, Wahn, Irrthum, 
Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe 
dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem behutsamen und 
feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche das 
Christenthum behandelt ist, - das Christenthum als die 
ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema's, welche 
die Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt 
zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie 
sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die 
christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit ihren 
absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit 
Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lüge verweist, - das heisst 
verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk- und 
Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie 
irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, 
den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: 
denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, 
Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum 
war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des 
Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein "anderes" 
oder "besseres" Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte.
Der Hass auf die "Welt", der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der 
Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits 
besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen in's Nichts, an's Ende, 
in's Ausruhen, hin zum "Sabbat der Sabbate" - dies Alles dünkte mich, 
ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische 
Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und 
unheimlichste Form aller möglichen Formen    
    
		
	
	
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