Rolle der Marianne in Goethes Geschwistern. 
Lamberg war im Theater, und ihm schien es, als rede sie von der Szene 
herab zu ihm allein. Eine gewisse hinschleppende Müdigkeit 
verwischte das Liebliche der Figur und verlieh ihr einen 
unwillkommenen Zug von Wehmut. Darüber ärgerte sich Lamberg. 
Nach der Vorstellung erwartete er Franziska am Bühnenausgang. Ihr 
schuldbewußtes Lächeln machte seine Strafpredigt überflüssig. Es war 
etwas Trauriges an ihr wie an einer Winterrose, die das offene Fenster 
scheuen muß. Lamberg führte sie in sein Haus, bewirtete sie, und seine 
unerwartete Wärme ergriff Franziska. Es war eine schöne 
Sommernacht, sie wandelten im Garten, scherzten und philosophierten. 
Schließlich erzählte sie ihm, daß der Fürst Armansperg, Majoratsherr, 
Besitzer eines Hundertmillionenvermögens, Herr auf Günderau,
Weilburg und Schloß Gamming, um ihre Hand angehalten habe. Seine 
Angehörigen, trostlos über diesen Entschluß, setzten alles daran, ihn an 
der Ausführung zu hindern, und sie selbst sei durch deren Ränke und 
Intrigen zu unverschuldeten Leiden verurteilt. Lamberg erwähnte, daß 
er den Fürsten vom Sehen kenne; eines der Armanspergschen Güter lag 
unweit von seinem Landhaus im Gebirge. Er schätze ihn auf sechzig, 
traue ihm aber Entschiedenheit genug zu, um einer 
Familien-Revolution die Spitze bieten zu können. 
Noch einmal vergessen; um Eros willen noch einmal; die unbeschwerte 
Seele dem Gott entgegentragen: kurze Stunden. Er mag die Stunden 
zählen und sein heitres Antlitz verschleiern, wenn der Morgen dämmert; 
dann sende er den Schlaf, und die nüchterne Sonne erfüllte ihn mit 
Trauer um so viel Lust, die gewesen ist. »Wer weiß, ob ich dich 
überhaupt liebe,« sagte Franziska; »vielleicht wollt' ich mich nur 
überzeugen, ob ein wirkliches Menschenherz in dir steckt.« -- »Kann 
man davon Gewißheit erlangen?« versetzte er in seiner stets auf 
Entfernung bedachten Art. Und sie wieder: »Blut und Atem sind auch 
schon etwas, wenn man sie spürt. Verbirg dich nicht so in deiner Kühle, 
denn du bist nicht so stark wie du dich stellst.« 
Kurz darnach tauchte in den höheren Zirkeln der Gesellschaft ein Mann 
auf, der sich Riccardo Troyer nannte, von vielen als ein Däne, von 
andern als ein Italiener bezeichnet wurde, und dessen Reichtum durch 
eine verschwenderische Lebensführung unbezweifelbar schien. Man 
rühmte seine verlockenden Umgangsformen, und der Eindruck seines 
reckenhaften Körperbaues werde durch ein Gebrechen kaum verringert, 
hieß es; er hinke nämlich, wie Lord Byron, sei aber, wie Lord Byron, 
dabei ein vollendeter Reiter, Schwimmer und Fechter. Wem der 
Hinweis auf ein romantisches Genie von hundertjähriger Berühmtheit 
nicht zusagen wollte, dem wurde versichert, daß Riccardo Troyer an 
moderner Prägung nichts zu wünschen übrig lasse, da er durch Börsen- 
und Minenspekulationen großen Stils zu seinem Vermögen gekommen 
sei. Legenden von Ehebrüchen und Entführungen, denen eine 
mißtrauenswerte Gewöhnlichkeit anhaftete, wurden behend verbreitet, 
von Selbstmorden junger Frauen und Mädchen mittelst Wasser, Gift, 
Fenstersturz und Leuchtgas, und die obere Menschheitsregion, die sich
so argwöhnisch gegen einen einheimischen Frack vom vorigen Jahre 
verhält, stand geblendet vor diesem ausländischen der letzten Mode, 
der von einem Zauberkünstler ohnegleichen getragen wurde; nicht 
einmal die Kunde von allerlei verwegenen Geldtransaktionen und 
Wechselgeschäften konnte die Glorie des Fremdlings beeinträchtigen. 
Zur Zeit, als das Gerücht den Namen Franziskas mit dem des 
Abenteurers vorsichtig zu verbinden begann, weilte Lamberg seit 
Wochen auf dem Land. Er hatte die Freunde ermuntert, ihn zu 
besuchen, und Ende August, da der lästige Schwarm der 
Sommerfrischler schon verschwunden war, trafen alle ein. Cajetan war, 
drei Tage vor den andern, aus Rom gekommen und wohnte bei 
Lamberg, Borsati und Hadwiger logierten in einem entzückenden 
kleinen Hotel unten am Seeufer, eine Wegviertelstunde von Lambergs 
Villa entfernt. Es war an einem Nachmittag, die Freunde saßen 
teetrinkend im Gartenhaus unter mächtigen Ahornbäumen, und Cajetan 
hatte eben erzählt, daß er bei der Gräfin Seewald, der Schwester des 
Fürsten Armansperg, eine Visite gemacht und Franziska dort gesehen 
und flüchtig gesprochen habe, als sie selbst den Wiesenweg heraufkam, 
in ihrer herrlich aufrechten Haltung, mit dem blauseidenen Überwurf 
und dem bunten Hut wie eine wandelnde Blume anzusehn. Sie 
begrüßte die Freunde, sie nahm Platz, begehrte Tee zu trinken und 
plauderte in der lebhaft erregten Art, die innere Unruhe und Hast 
verbergen will. »Wie steht es nun? wirst du uns also verlassen?« fragte 
Borsati mit zärtlichem Vorwurf. Franziska erwiderte weich: »Ihr sollt 
ein Andenken von mir haben.« -- »Wir haben es immer,« versicherte 
Borsati galant. Sie ließ den erinnerungsvollen Blick in seinen Augen 
ruhen und wiederholte: »Ihr sollt ein Andenken von mir haben.« 
Sie hatte schon Abschied genommen, flüchtiger als die Gelegenheit zu 
fordern schien, da kehrte sie noch einmal zurück und sagte: »Wollt ihr 
heute übers Jahr wieder hier versammelt sein? Wollt ihr das? Dann 
verspreche ich euch, zu kommen.« Die Freunde sahen einander 
verwundert an, doch Franziska fuhr fort: »Heut ist der erste September, 
-- also übers Jahr am gleichen Tage bin ich wieder hier, und vorher 
werdet ihr mich wohl kaum sehen. Halten wir die Verabredung, 
machen wir's wie die Brüder im Märchen, sagt ja und    
    
		
	
	
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