ihr zu behaupten, daß sie 
das Nichtsein den Leiden des Daseins vorziehe, da ja bei ihr vielmehr 
das ganze Leiden in der bitteren Notwendigkeit des Sterbens 
besteht?--Wo finden wir die Resignation selbst bei einem MACBETH 
oder RICHARD III.? 
Freilich, daß solche Ausnahmen sich finden, daß nicht in allen 
Tragödien der Held zur Resignation gelange, dies wird ausdrücklich 
zugestanden. Die Resignation, sagt man uns, bleibe eben in solchen 
Fällen der Reflexion des Zuschauers überlassen. Aber damit ist doch 
wohl zugleich ausdrücklich zugestanden, daß die tröstliche Aussicht, in 
welcher der eigentliche Sinn der Tragödie bestehen sollte, ganz 
außerhalb des Kunstwerkes steht, und lediglich dem Zuschauer zur Last 
fällt, der den Dichter ergänzt oder korrigiert, wie es ihm eben beliebt. 
Giebt die thatsächliche Resignation des Helden uns das Bewußtsein, 
daß wir unter gleichen Umständen derselben Resignation fähig sein 
würden, dann muß ebenso sicher der Mangel der Resignation, der ja 
auch im Kunstwerk wohl motiviert ist, die Überzeugung in uns wecken, 
daß wir unter gleichen Umständen ebenso unresigniert sein würden. 
Gewinnen wir trotzdem auch im letzteren Falle die Zuversicht unserer
eigenen Resignationsfähigkeit, so gelangen wir dazu auf unsere eigenen 
Kosten und dem Kunstwerk zum Trotz. Wir können dann ebensowohl 
aus jeder beliebigen Komödie die gleiche Zuversicht schöpfen. Das 
Kunstwerk ist schließlich gänzlich gleichgiltig geworden. 
"Reflexionen" können wir ja jederzeit anstellen, welche wir wollen. 
Fassen wir alles zusammen, so leuchtet ein, worin für die Theorie in 
Wahrheit der Genuß des tragischen Kunstwerkes besteht. Man geht ins 
Theater, um sich seiner glücklich gewonnenen Weltanschauung zu 
freuen. Stimmt damit das aufgeführte Stück überein oder läßt es sich so 
umdeuten, daß es damit übereinzustimmen scheint, dann freut man sich 
auch an dieser wirklichen oder vermeintlichen Übereinstimmung. Will 
das Stück sich durchaus nicht der Weltanschauung fügen, nun, dann 
läßt man das Kunstwerk Kunstwerk sein und begnügt sich mit der 
Freude an seiner eigenen Weisheit. 
Das tragische Kunstwerk ist eben, so wenig wie irgendwelches 
Kunstwerk, dazu da Weltanschauungen zu predigen oder zu bestätigen, 
pessimistische so wenig wie optimistische. "Aber der Dichter muß doch 
irgend eine Weltanschauung haben, und die muß in seinem Werke zu 
Tage treten. Und nur der wird das Kunstwerk recht verstehen, der sich 
auf den Boden dieser Weltanschauung stellt."--Ich frage: Warum dies 
alles? Mag der Dichter als Mensch, sozusagen für seinen 
Privatgebrauch eine Weltanschauung haben. Als Dichter bedarf er 
keiner solchen, es sei denn, daß es ihm darauf ankommt in seinen 
Gestalten einen Kampf der Weltanschauungen zur Darstellung zu 
bringen. Im übrigen wird er sogar gut thun, seine Weltanschauung 
möglichst für sich zu behalten. Was er in jedem Falle braucht, ist 
Kenntnis der Welt und des in ihr Möglichen; Verständnis für das, was 
in der Welt ist und auf das menschliche Gemüt zu wirken vermag; 
Beherrschung der Sprache, in der die Erscheinungen in der Welt ihren 
Sinn und Inhalt zu offenbaren pflegen. Will man dies Weltanschauung 
nennen, so ist es doch nicht Weltanschauung in dem hier 
vorausgesetzten philosophischen Sinne des Wortes. 
So haben denn auch große Dichter keine oder eine sehr schwankende 
"Weltanschauung" gehabt, und hatten sie eine, so hüteten sie sich das
Kunstwerk zur Darlegung und Anpreisung dieser Weltanschauung zu 
mißbrauchen. 
Nur in einem Sinne, außer dem eben zugestandenen, muß der Dichter 
und jeder Künstler als solcher Weltanschauung haben und geben, wenn 
nämlich unter "Welt" die Welt des Kunstwerkes verstanden wird. Diese 
Welt ist seine Welt und diese Welt allerdings muß ihm, indem er sie 
schafft, Gegenstand einer klaren, einheitlichen und von innerer 
Wahrheit erfüllten Anschauung sein. Eben diese "Weltanschauung" soll 
dann gewiß auch der Betrachter gewinnen. 
 
DIE "POETISCHE GERECHTIGKEIT". 
Ich sagte schon, daß das tragische Kunstwerk, wie keine pessimistische, 
so auch keine optimistische Weltanschauung predige. Es hat mit beiden 
gleich viel oder gleich wenig zu thun. Es giebt aber eine Theorie der 
Tragödie, die optimistisch genannt werden kann, auch wohl sich selbst 
so nennt und die das tragische Kunstwerk, wenngleich in anderer Weise, 
darum doch nicht minder verfälscht als die besprochene pessimistische. 
Die gemeinte Theorie fordert, daß das Übel, das dem Helden widerfährt, 
insbesondere sein schließlicher Untergang, als "Strafe" des Bösen, als 
"Sühne" für eine "Verschuldung" erscheine. Sie kennt eine überall in 
der Tragödie waltende "poetische Gerechtigkeit". Daß es eine solche 
Gerechtigkeit in der Welt gebe, daß alle Schuld sich auf Erden räche, 
dies soll der erhebende Gedanke sein, den das Trauerspiel 
vergegenwärtige und in dessen Vergegenwärtigung sein eigentlicher 
Sinn bestehe. 
Wir fragen zunächst: Besteht denn, wirklich jene Gerechtigkeit in der 
Welt, rächt sich wirklich alle Schuld auf Erden? Soviel wir wissen, 
nicht. Schuldige und Unschuldige gehen unter: Unschuldige und 
Schuldige bleiben erhalten und freuen sich ihres Daseins. Die Besten 
empfinden mit tiefem, vielleicht vernichtendem Schmerze, was die 
Bösen, die Oberflächlichen, die sittlich Stumpfen gleichgiltig oder mit 
lächelndem Achselzucken ansehen. Darnach ist es ein unwahrer 
Gedanke, den die Tragödie vergegenwärtigt oder es ist unwahr, daß ihn
die Tragödie vergegenwärtigt. 
Die Tragödie vergegenwärtigt den Gedanken nicht. Die Tragödie    
    
		
	
	
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