vergegenwärtigt überhaupt keine allgemeine Gedanken. Sie 
vergegenwärtigt nur sich selbst. MACBETHs, RICHARDs III. Schuld 
rächt sich; vielleicht, obgleich wir dies einstweilen bezweifeln, auch die 
der ANTIGONE, CORDELIA, OPHELIA. Aber diese Gestalten 
gehören, soviel ich sehe, nicht der "Erde" an, sondern der Tragödie; 
nicht auf Erden, sondern in der Welt der Phantasie, in der wir leben, 
wenn wir die Gestalten sehen, rächt sich ihre Schuld. Und daß sie sich 
rächt, das ist kein Gedanke, sondern eine Thatsache, die wir vor 
unseren Augen erleben. Nicht dazu ist die Tragödie da, damit wir 
Gedanken vollziehen, sondern damit wir etwas erleben und davon 
ergriffen sind. 
Doch damit ist die Theorie nicht beseitigt. Den "Gedanken" sind wir 
los und damit die "Weltanschauung", die in dem Glauben an jenen 
Gedanken besteht, und damit ist viel gewonnen. Aber das Erlebnis, der 
einzelne Fall der poetischen Gerechtigkeit, den uns die Tragödie 
vorführt, bleibt bestehen oder scheint bestehen zu bleiben. Und damit 
bliebe für uns das Wesentliche. Mag der "Gedanke" oder die 
"Weltanschauung" wahr sein oder falsch, uns genügte der einzelne Fall, 
wie er auf der Bühne uns entgegentritt. In der Welt der Wirklichkeit 
braucht ein solcher Fall nur möglich zu sein. Ist er zugleich auf der 
Bühne wirklich und beruht darauf die Wirkung der Tragödie, so hört 
unser weiterer Widerspruch gegen die Theorie auf. 
Aber hier drängt sich sofort ein anderer naheliegender Einwand auf. Es 
giebt außer der Tragödie andere tragische Kunstwerke. Man sollte 
meinen, was den Sinn der Tragödie ausmache, müsse in irgend einer 
Weise auch in sonstigen tragischen Kunstwerken vergegenwärtigt sein. 
Wiefern aber leidet der LAOKOON des plastischen Bildwerks zur 
Strafe für eine Schuld? Wo ist da die poetische, oder wie es hier wohl 
heißen müßte, "plastische" Gerechtigkeit? Ich sehe das Leiden deutlich 
genug, aber woran sehe ich, daß ihm eine Schuld voranging? Der 
LAOKOON des Dichters mag für eine Schuld leiden, obgleich ich 
nicht weiß, worin sie bestehen sollte. Aber der LAOKOON des
Dichters ist nun einmal nicht der plastische. 
Dieser Thatbestand für sich allein hätte genügen müssen, die Schuld- 
und Straftheorie, oder die Theorie der "poetischen Gerechtigkeit" zu 
Falle zu bringen. Doch so eingewurzelte Theorien sind nicht so leicht 
zu fällen. Vielleicht hilft man sich mit der Bemerkung, die gemeinsame 
Bezeichnung plastischer und dramatischer Kunstwerke als tragischer 
sei völlig zufällig, beweise darum in der That nichts für irgendwelche 
Übereinstimmung in den Gründen ihrer Wirkung. 
So fassen wir lieber die Tragödie direkt ins Auge. Der tragische Held 
soll leiden zur Strafe für eine Schuld. Diese Behauptung nötigt die 
Vertreter unserer Theorie, überall an den tragischen Helden eine 
"Schuld" aufzusuchen. Es gelingt ihnen denn auch überall etwas zu 
finden, dem sie diesen Namen glauben geben zu dürfen. ANTIGONE 
erhebt sich gegen den Träger der socialen Ordnung; DESDEMONA 
versündigt sich gegen die väterliche Autorität, sie macht keinen 
Versuch, BRABANTIO durch Bitten und Thränen zur Einwilligung zu 
bewegen; und nun gar der Leichtsinn, das Taschentuch zu 
verlieren!--EMILIA GALOTTI hat keine tatsächliche, aber eine 
"Gedankenschuld" auf sich geladen.--So sehen wir, kein Unschuldiger, 
nur Schuldige werden vom tragischen Geschick ereilt. 
Man wird nicht umhin können, den Scharfsinn zu bewundern, der zu 
solchen Schuldbeweisen aufgeboten worden ist. Im übrigen gewähren 
sie ein wenig erfreuliches Schauspiel. Als ob es nicht genug wäre, daß 
der Dichter seine Helden leiden läßt, werden sie nun auch noch von den 
Ästhetikern mißhandelt. Man zwingt sie erbarmungslos auf die 
Anklagebank, um alles an ihnen hervorzukehren, das Innerlichste und 
Äußerlichste, das was sie gethan und das was sie, zwar nicht gegen ihre 
eigene, aber gegen des Ästhetikers bessere Einsicht unterlassen haben, 
Fehler, von denen Dichter und Kunstwerk wissen, und solche, von 
denen beide nichts wissen. Nachdem so das Verborgenste ans Licht 
gezogen ist, "plädiert" man für und wider. Wo der eine eine kleine 
Schuld findet, wittert der andere eine große; wo der eine milde 
gestimmt ist, redet sich ein anderer in Entrüstung hinein. Alle aber 
stimmen sie schließlich in das Schuldig ein: "Was brauchen wir weiter
Zeugnis? Weg mit ihnen." 
Was aber will man denn eigentlich mit dem allem? Darum handelt es 
sich ja doch nicht, ob die tragische Persönlichkeit überhaupt 
"unschuldig" ist, so unschuldig, daß auch derjenige, der seiner Theorie 
zuliebe einen Tadel an ihr finden muß und will, keinen zu finden 
vermag. Wir sind allzumal Sünder, und die etwa ausgenommen sind, 
die neugeborenen Kinder oder die Heiligen des Himmels, wird man 
gewiß auch in Zukunft nicht zu Helden von Tragödien machen. Nur das 
kann doch die Frage sein, ob der Held eine Schuld auf sich geladen hat, 
für die das Leiden, das ihn trifft, als gerechte Strafe erscheint, eine 
Schuld, die nur mit Vernichtung gesühnt werden kann. Und dies 
wiederum nicht nach einem Maßstabe, den wir speciell für die Tragödie 
zurecht schneiden mögen, sondern nach demjenigen, den unser 
natürliches sittliches Gefühl uns an die Hand giebt. 
Reden wir ganz speziell. Hat ein Weib, das ganz erfüllt von reinster    
    
		
	
	
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