Zur Freundlichen Erinnerung | Page 6

Oscar Maria Graf
Zehn
und zwölf Schritte ... die Wü-ü-ürmer!"....
Nach der irren Hast der ersten Worte spaltete sich die Stimme,
überschlug sich und klang zuletzt wie ein keuchendes, ersticktes
Stöhnen. Jetzt hielt er inne.
Die hohen Türen standen offen da. Schwarz und düster. Gegen ihn
gerichtet wie drohende Rachen.
Die Gestalten und Gesichter waren fort. Es war still. Still!--Mit weit
aufgerissenen Augen starrte Peter in diese Leere. Sein Körper begann
zu schlottern, aber er riß sich zusammen. Er wich zurück. Sein Kopf
stieß dumpf an den Fenstergriff. Erschrocken wandte er sich herum.
Die Helle brach üher ihn. Er öffnete rasch.
Jetzt befiel ihn wieder das Zittern. Sein Gesicht verzerrte sich. Er
wollte umsehen und wagte es nicht. Seine Arme umklammerten das

Fensterkreuz.
Furchtbar schrie er: "Hilfe! Hi-ilfe!"
Er schwang sich plötzlich mit einem wilden Satz aufs Fenster und
sprang in die Tiefe.--

SINNLOSE BEGEBENHEIT
Um es ohne Umschweife zu sagen--: Michel Zöll hatte heute einen
guten Tag.
Vorgestern, als er stumpfsinnig in der Wärmestube der
Arbeitsvermittlung saß und an dem nassen, verfilzten Zigarrenstummel
saugte, den er auf dem Hergang in der Frühe gefunden hatte, kam sein
Weib herein und sagte zu ihm: "Dein Alter ist gestorben ... Vom
Elektrizitätswerk haben sie hergeschickt, daß er auf der Straße
umgefallen ist.--Schau nach!"
Es stimmte.
Jetzt lag der Tote unter der Erde.
"Ich komm schon!--Nachher!" sagte Michel zu seinem Weib nach dem
Begräbnis und schickte es heim, während er zur Logisfrau des
Verstorbenen ging.--
Wie oft hatte Michel es nicht gehört, wenn Fußtritte auf ihn traten,
wenn er in eine Ecke flog, wenn die Fäuste seines Vaters auf seinen
Kopf niedersausten oder eine Eisenstange, ein Teller, eine Bürste:
"Knochen, verstockter!--Der Teufel soll mich kreuzweis' holen, wenn
ich dir einen Pfennig hinterlaß'! Ertränkt sollte man dich im ersten Bad
haben, du Nichtsnutz!"
Mit sechszehn Jahren noch, als Michel schon im letzten Lehrjahr stand
und eigentlich keine Last mehr war, wollte der Alte den Jungen
wegräumen und übergoß ihn beim Heimkommen mit siedendem

Kartoffelwasser, weil er das Vogelfutter für den Kanarienvogel
mitzubringen vergessen hatte.
Michel mußte damals ins Krankenhaus gebracht werden und sah zum
erstenmal, wie ein Bett aussah.
Es war schön in diesen hellen Räumen. Man sah viele fremde
Menschen, die allerhand erzählten. Michel faßte Mut da und ging nach
seiner Entlassung mit dem was er auf dem Leibe trug, auf die
Wanderschaft, schlug sich auf alle mögliche Art und Weise durchs
Leben.
Mutter--?! Ein komischer Begriff!
Michel hatte noch so etwas wie eine abgemagerte Frau in einem
Haufen Lumpen im Gedächtnis. Ein Paar spindeldürre Arme wie
Stöcke. Und Hüsteln.
Und das, was er nun seit ungefähr zwei Jahren unausgesetzt ablebte:
Eben ein Zimmer voll Gerumpel, mit erstickender Luft und einem
Vogelbauer im staubigen Fenster.
Nur--daß Michels Weib zwei Kinder hatte und hin und wieder zum
Putzen ging, daß das jetzige Zimmer keinen Vogelbauer hatte, ein klein
wenig heller war, aber enger als das frühere.
Vor zwei Jahren war es etwas anders. Damals arbeitete Michel noch in
der Motorenfabrik. Es war guter Verdienst. Aber wie der Teufel sein
wollte, die Firma machte Bankrott, kam noch hinzu, daß das damalige
Haus, in dem Michel mit Weib und Kindern in einer
Zweizimmerwohnung hauste, in ein Warenhaus umgewandelt wurde,
und die Leute nach langem Hin und Her auf die Straße gesetzt wurden.
Weshalb soviel Aufhebens machen! Die Entwicklung der Dinge läßt
sich leicht denken. Die Hauptsache war immer: Man hatte zur Not ein
Dach üher dem Kopf bekommen. Man wußte, wo man hingehörte.--
Nun, es ist etwas Wahres dran an dem Sprichwort: "Wo die Not am

größten, ist Hilfe am nächsten."
Trotzdem der Verstorbene sich vielleicht geschworen haben mochte,
nie und nimmermehr für Michel etwas zu hinterlassen, fiel dem Sohn
jetzt die ganze erraffte Habschaft des Alten zu.--
Es war erst fünf Uhr nachmittags. Michel konnte in aller Ruhe das
Zimmer des Verstorbenen durchstöbern und alles mitnehmen. Er fand
außer baren fünftausend Mark einige Anzüge, von denen er den besten
sogleich anzog, einen Überzieher, den er ebenfalls umlegte, und
allerhand Gerumpel, das er dem Tändler Finsterhofer verkaufte.
Er war gut aufgelegt, der Michel, lachte und gab schließlich dem
drängenden Tändler auch das ganze andere Geschleppe, die übrigen
Anzüge und was da noch war.
Die Tasche voll Geld schritt er in die dämmernde Stadt.
"Ist doch gut, wenn man weiß, wer einen auf die Welt gebracht hat,"
brummte er aufgeheitert und ging in eine der bekannten Wirtschaften
inder Bahnhofsnähe, um noch ein paar Gläser zur Feier des Tages zu
trinken.
Es kam ihm merkwürdig vor, als er so unter den anderen Arbeitern,
Zuhältern, Herumlungerern und alten Huren saß.
Einige kannten ihn und maßen ihn von der Seite.
"Hast das große Los gezogen, Michel! He ... gibst was aus?" rief ihm
ein Tisch zu und in jedem Blick war ein konstatierendes Zwinkern.
Michel setzte sich. Es tat ihm wohl, daß soviel Freundlichkeit ihn
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