Zur Freundlichen Erinnerung | Page 4

Oscar Maria Graf
auf, ging zehn und zwölf
Schritte. Er aß jetzt auch.--
IV.
Endlich nach fünfzehn Wochen Haft fand die Verhandlung gegen Peter
statt.
Stupid folgte der Gefangene den Wärtern durch lange Gänge, dann
fühlte er Luft und bekam Angst, atmete sparsam.
Und dann saß er in einem Saal, sah Gestalten, sah starre Augen und
hörte Redegeräusche um sich herum und aus sich heraus.
Zuerst saß er da wie eine leblose Puppe. Dann, mit jedem gehörten
Wort, kam mehr und mehr das Leben in ihn. Sein Gesicht bewegte sich,
als öffne es sich aus einer Erstarrung--und dann lag ein Lächeln die

ganze Zeit auf seinen stoppeligen Falten und blieb.--
Die Dienstmagd vom Vorderhaus sagte aus. Einfach klangen ihre
Worte. Sie sprach nicht zu viel und nicht zu wenig.
Das Geräusch der Worte war erst undeutlich, dann wurde es klarer und
klang.--
Am fraglichen Sonntag nachmittags zwei Uhr vernahm diese
Dienstmagd ein Wimmern aus dem offenen Fenster des Windelschen
Zimmers. Dem folgte ein grobes, kurzes Schimpfen. Dann sah sie den
Angeklagten auf der Treppe, wie er plötzlich innehielt und wieder
umkehrte. Und wieder hörte sie das Wimmern, noch deutlicher sogar
und ein wütenden Schimpfen, dann einen Türzuschlag und Windel mit
grimmigem Gesicht die Treppe hinunterrennen.
Wie ruhig sie das sagte: "Und dann, gleich darauf, habe ich einen
dumpfen Knall und einen kurzen, nicht recht lauten Schrei, der eher ein
Stöhnen war, gehört und das Wimmern hat auf einmal aufgehört. Ich
weiß nicht mehr genau, war's gleich nach dem Türzuschlagen oder ein
wenig später. Ich bin dann zu meiner Schwester gegangen, weil ich
Ausgang hatte.... Die Leute im Vorderhaus und im Hinterhaus? ... Ja ...
soviel ich gesehen habe, die waren fast alle weggegangen ... schon
mittags.... Es war ja auch so schönes Wetter."
Peter Windel saß da und lauschte. Es klang!--
Er begann auf einmal langsam--dann aber stoßweise zu schluchzen.
Eine Bewegung kam in den Saal. Eine Glocke läutete. Lauter rief wer!
Ja!--Ja! Das konnte der Vesperruf in der großen Halle sein! Das war
dasselbe, dünne, schrille Läuten.--
Dann klangen wieder Stimmen hin und her.
Der Chef, die Arbeiter und Angestellten und die frühere Logisfrau
sagten günstig über den Angeklagten aus. Die letztere weinte sogar
buchstäblich und sprach erregt, daß der Staatsanwalt sich verpflichtet
fühlte, sie zu fragen, wie lange Windel sie kenne, ob er sie zuletzt noch

aufgesucht und ob sie zu ihm in näherer Beziehung gestanden habe.
Die dicke Frau wurde darob sehr schrill, schrie und es läutete abermals.
Peter Windel war wieder ruhig geworden und lächelte wieder.--
Lächelte, trotz der furchtbaren Anklagerede des Staatsanwalts, lächelte
starr in den Raum, als der Rechtsanwalt redete und redete.--
Man fand keine Absicht in dieser Tat. Die Beweise waren zu
mangelhaft. Der Angeklagte war ein unbescholtener Mensch. Bis in die
Schulzeit hatten die eifrigen Nachforschungen der Behörden
zurückgegriffen, nichts ließ auf einen jähzornigen, böswilligen
Menschen schließen, sondern eher auf einen schüchternen, scheuen,
dem das Leben stark mitgespielt hatte.--
"Alles, was die tote Frau Hullinger hinterlassen hat, fand man
unberührt. Sie haben ein Zeugnis aus der weitaus überwiegenden
Mehrzahl der Aussagenden, daß der Angeklagte nie zu einer solchen
Tat fähig sei. Wie kann man annehmen, daß ein solcher Mensch wegen
einer geringfügigen Unreinlichkeit einfach eine alte Frau dermaßen an
den Waschtisch wirft, daß sie augenblicklich tot ist!" rief der
Verteidiger. Und viele nickten. Man hörte deutlich ein Aufatmen, als
der Freispruch bekanntgegeben wurde und sah aufgeheiterte, fast
erlöste Gesichter.--
Peter Windel war frei.
"Kommen Sie nur gleich wieder!" hatte sein Chef gesagt, als er ihm
beim Weggehen die Hand drückte. Und der Rechtsanwalt hatte einen
Blick wie ungefähr: "Na, das hätten wir wieder durchgedrückt!"
Nach fünfzehn Wochen spürten Peters zögernde
Schritte wieder Straßen, hörten seine Ohren Trambahnrattern, sahen
seine Augen Menschen, Farben, Fenster, und er wußte selber nicht, wie
und weshalb er plötzlich an einen Schalter herantrat und sagte: "Dritter
Klasse! Ja!"

Er stieg auf den Zug und ging nicht in die Kupees. Eine Nacht lang
stand er auf dem eisernen, ratternden Vorplatz eines Wagens und
atmete.--
Der Wind pfiff. Der Zug sauste, riß die Luft auseinander, zog
vorbeifliegende Lichter in die Länge, bohrte hemmungslos in eine
dunkle, ungewisse Ferne.
Keine Wand mehr, keine zehn und zwölf Schritte, kein Ende--das
Toben und Brausen wieder! Nur diesmal wie ein Flug durch einen
unermeßlichen Raum.--
V.
Aber--es ist nicht wahr! Man kann nichts wegtrinken, nichts vergessen
machen, nichts auslöschen! Man trägt es mit sich wie ein unsichtbares
Schneckenhaus und zuletzt!?--
Es sind immer wieder die kahlen, glatten Mauern, die Tür mit dem
ausgestochenen Aug' in der Mitte, die zehn und zwölf Schritte....
Es klopft.--
Es kratzt in den Wänden. Die Würmer nagen. Sie warten und fallen
plötzlich in einer Nacht wie schwere Tropfen herab, bohren sich ins
Fleisch, nagen--nagen.--
Peter Windel hatte eine wilde Flucht hinter sich. Durch Städte und
Dörfer war er gefahren, in Hotels und in Wirtschaften, in
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