Wissenschaft der Logik, vol 1 | Page 2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
fÜnf und zwanzig Jahren unter uns erlitten, der höhere Standpunkt,
den das Selbstbewußtseyn des Geistes in dieser Zeitperiode über sich
erreicht hat, hat bisher noch wenig Einfluß auf die Gestalt der Logik
gehabt.
Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist, so zu sagen,
mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden, und aus der Reihe der
Wissenschaften verschwunden. Wo lassen oder wo dürfen sich Laute
der vormaligen Ontologie, der rationellen Psychologie, der Kosmologie
oder selbst gar der vormaligen natürlichen Theologie noch vernehmen
lassen? Untersuchungen, zum Beispiel über die Immaterialität der Seele,
über die mechanische und die Endursachen, wo sollten sie noch ein
Interesse finden? Auch die sonstige Beweise vom Daseyn Gottes
werden nur historisch, oder zum Behufe der Erbauung und
Gemüthserhebung angeführt. Es ist dieß ein Faktum, daß das Interesse
Theils am Inhalte, Theils an der Form der vormaligen Metaphysik,
Theils an beiden zugleich verloren ist. So merkwürdig es ist, wenn
einem Volke, z.B. die Wissenschaft seines Staatsrechts, wenn ihm
seine Gesinnungen, seine sittlichen Gewohnheiten und Tugenden
unbrauchbar geworden sind, so merkwürdig ist es wenigstens, wenn ein
Volk seine Metaphysik verliert, wenn der mit seinem reinen Wesen
sich beschäftigende Geist kein wirkliches Daseyn mehr in demselben
hat.
Die exoterische Lehre der kantischen Philosophie,--daß der Verstand

die Erfahrung nicht überfliegen dürfe, sonst werde das
Erkenntnisvermögen theoretische Vernunft, welche für sich nichts als
Hirngespinnste gebähre, hat es von der wissenschaftlichen Seite
gerechtfertigt, dem spekulativen Denken zu entsagen. Dieser popularen
Lehre kam das Geschrei der modernen Pädagogik, die Noth der Zeiten,
die den Blick auf das unmittelbare Bedürfniß richtet, entgegen, daß,
wie für die Erkenntniß die Erfahrung das Erste, so für die
Geschicklichkeit im öffentlichen und Privatleben, theoretische Einsicht
sogar schädlich, und Übung und praktische Bildung überhaupt das
Wesentliche, allein Förderliche sey.--Indem so die Wissenschaft und
der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den
Untergang der Metaphysik zu bewirken, so schien das sonderbare
Schauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne
Metaphysik zu sehen;--wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten
Tempel ohne Allerheiligstes.--Die Theologie, welche in frühern Zeiten
die Bewahrerin der spekulativen Mysterien und der obzwar abhängigen
Metaphysik war, hatte diese Wissenschaft gegen Gefühle, gegen das
Praktisch-populare und gelehrte Historische aufgegeben. Welcher
Veränderung entsprechend ist, daß anderwärts jene Einsamen, die von
ihrem Volke aufgeopfert und aus der Welt ausgeschieden wurden, zu
dem Zwecke, daß die Kontemplation des Ewigen und ein ihr allein
dienendes Leben vorhanden sey, nicht um eines Nutzens, sondern um
des Segens willen,--verschwanden; ein Verschwinden, das in einem
andern Zusammenhange, dem Wesen nach als dieselbe Erscheinung,
wie das vorhin Erwähnte, betrachtet werden kann.--So daß, nach
Vertreibung dieser Finsternisse, der farblosen Beschäftigung des in sich
gekehrten Geistes mit sich selbst, das Daseyn in die heitere Welt der
Blumen verwandelt zu seyn schien, unter denen es bekanntlich keine
schwarze giebt.
Ganz so schlimm als der Metaphysik ist es der Logik nicht ergangen.
Daß man durch sie denken lerne, was sonst für ihren Nutzen und damit
für den Zweck derselben galt,--gleichsam als ob man durch das
Studium der Anatomie und Physiologie erst verdauen und sich
bewegen lernen sollte--, dieß Vorurtheil hat sich längst verloren, und
der Geist des Praktischen dachte ihr wohl kein besseres Schicksal zu,
als ihrer Schwester. Dessen ungeachtet, wahrscheinlich um einigen
formellen Nutzens willen, wurde ihr noch ein Rang unter den

Wissenschaften gelassen, ja sie wurde selbst als Gegenstand des
öffentlichen Unterrichts beibehalten. Dieß bessere Loos betrifft jedoch
nur das äußere Schicksal; denn ihre Gestalt und Inhalt ist derselbe
geblieben, als er sich durch eine lange Tradition fortgeerbt, jedoch in
dieser Überlieferung immer mehr verdünnt und abgemagert hatte; der
neue Geist, welcher der Wissenschaft nicht weniger als der
Wirklichkeit aufgegangen ist, hat sich in ihr noch nicht verspüren
lassen. Es ist aber ein für allemal vergebens, wenn die substantielle
Form des Geistes sich umgestaltet hat, die Formen früherer Bildung
erhalten zu wollen; sie sind welke Blätter, welche von den neuen
Knospen, die an ihren Wurzeln schon erzeugt sind, abgestoßen werden.
Mit dem Ignoriren der allgemeinen Veränderung fängt es nach gerade
an, auch im Wissenschaftlichen auszugehen. Unbemerkter Weise sind
selbst den Gegnern die andern Vorstellung geläufig und eigen
geworden, und wenn sie gegen deren Quelle und Principien fortdauernd
spröde thun und sich widersprechend dagegen benehmen, so haben sie
dafür die Konsequenzen sich gefallen lassen, und des Einflusses
derselben sich nicht zu erwehren vermocht; zu ihrem immer
unbedeutender werdenden negativen Verhalten wissen sie sich auf
keine andere Weise eine positive Wichtigkeit und einen Inhalt zu geben,
als daß sie in den neuen Vorstellungsweisen mitsprechen.
Von der andern Seite scheint die Zeit der Gährung, mit der eine neue
Schöpfung beginnt, vorbei zu seyn. In ihrer ersten Erscheinung pflegt
eine solche sich mit fanatischer Feindseligkeit gegen die ausgebreitete
Systematisierung des frühen Princips zu verhalten, Theils auch
furchtsam zu seyn, sich in der Ausdehnung des Besondern zu verlieren,
Theils aber die Arbeit die zur wissenschaftlichen Ausbildung erfordert
wird, zu scheuen,
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