weshalb jedem von Zeit zu Zeit ein Versuch,
heranzutreten, erlaubt wird, der selten mißlingt, weil wir Scham und 
Scheu bei dieser wie bei unsern übrigen Einrichtungen gar wohl hegen 
und pflegen dürfen. Daß Eurem Sohn eine glückliche Stimme 
geworden, freut mich innigst, für das übrige sorgt sich um desto 
leichter." 
Nun waren sie zu einem Ort gelangt, wo Felix verweilen und sich an 
der Umgebung prüfen sollte, bis man zur förmlichen Aufnahme geneigt 
wäre; schon von weitem hörten sie einen freudigen Gesang; es war ein 
Spiel, woran sich die Knaben in der Feierstunde diesmal ergötzten. Ein 
allgemeiner Chorgesang erscholl, wozu jedes Glied eines weiten 
Kreises freudig, klar und tüchtig an seinem Teile zustimmte, den 
Winken des Regelnden gehorchend. Dieser überraschte jedoch öfters 
die Singenden, indem er durch ein Zeichen den Chorgesang aufhob und 
irgendeinen einzelnen Teilnehmenden, ihn mit dem Stäbchen 
berührend, aufforderte, sogleich allein ein schickliches Lied dem 
verhallenden Ton, dem vorschwebenden Sinne anzupassen. Schon 
zeigten die meisten viel Gewandtheit, einige, denen das Kunststück 
mißlang, gaben ihr Pfand willig hin, ohne gerade ausgelacht zu werden. 
Felix war Kind genug, sich gleich unter sie zu mischen, und zog sich 
noch so leidlich aus der Sache. Sodann ward ihm jener erste Gruß 
zugeeignet; er legte sogleich die Hände auf die Brust, blickte aufwärts, 
und zwar mit so schnackischer Miene, daß man wohl bemerken konnte, 
ein geheimer Sinn dabei sei ihm noch nicht aufgegangen. 
Der angenehme Ort, die gute Aufnahme, die muntern Gespielen, alles 
gefiel dem Knaben so wohl, daß es ihm nicht sonderlich wehe tat, 
seinen Vater abreisen zu sehen; fast blickte er dem weggeführten 
Pferde schmerzlicher nach; doch ließ er sich bedeuten, da er vernahm, 
daß er es im gegenwärtigen Bezirk nicht behalten könne; man 
versprach ihm dagegen, er solle, wo nicht dasselbe, doch ein gleiches, 
munter und wohlgezogen, unerwartet wiederfinden. 
Da sich der Obere nicht erreichen ließ, sagte der Aufseher: "Ich muß 
Euch nun verlassen, meine Geschäfte zu verfolgen; doch will ich Euch 
zu den Dreien bringen, die unsern Heiligtümern vorstehen, Euer Brief 
ist auch an sie gerichtet, und sie zusammen stellen den Obern vor." 
Wilhelm hätte gewünscht, von den Heiligtümern im voraus zu 
vernehmen, jener aber versetzte: "Die Dreie werden Euch, zu 
Erwiderung des Vertrauens, daß Ihr uns Euren Sohn überlaßt, nach
Weisheit und Billigkeit gewiß das Nötigste eröffnen. Die sichtbaren 
Gegenstände der Verehrung, die ich Heiligtümer nannte, sind in einen 
besondern Bezirk eingeschlossen, werden mit nichts gemischt, durch 
nichts gestört; nur zu gewissen Zeiten des Jahres läßt man die Zöglinge, 
den Stufen ihrer Bildung gemäß, dort eintreten, um sie historisch und 
sinnlich zu belehren, da sie denn genugsamen Eindruck mit 
wegnehmen, um, bei Ausübung ihrer Pflicht, eine Zeitlang daran zu 
zehren." 
Nun stand Wilhelm am Tor eines mit hohen Mauern umgebenen 
Talwaldes; auf ein gewisses Zeichen eröffnete sich die kleine Pforte, 
und ein ernster, ansehnlicher Mann empfing unsern Freund. Dieser fand 
sich in einem großen, herrlichen grünenden Raum, von Bäumen und 
Büschen vielerlei Art beschattet, kaum daß er stattliche Mauern und 
ansehnliche Gebäude durch diese dichte und hohe Naturpflanzung 
hindurch bemerken konnte; ein freundlicher Empfang von den Dreien, 
die sich nach und nach herbeifanden, löste sich endlich in ein Gespräch 
auf, wozu jeder das Seinige beitrug, dessen Inhalt wir jedoch in der 
Kürze zusammenfassen. 
"Da Ihr uns Euren Sohn vertraut", sagten sie, "sind wir schuldig, Euch 
tiefer in unser Verfahren hineinblicken zu lassen. Ihr habt manches 
äußerliche gesehen, welches nicht sogleich sein Verständnis mit sich 
führt; was davon wünscht Ihr vor allem aufgeschlossen?" 
"Anständige, doch seltsame Gebärden und Grüße hab' ich bemerkt, 
deren Bedeutung ich zu erfahren wünschte; bei euch bezieht sich gewiß 
das äußere auf das Innere, und umgekehrt; laßt mich diesen Bezug 
erfahren." 
"Wohlgeborne, gesunde Kinder", versetzten jene, "bringen viel mit; die 
Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; 
dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, öfters entwickelt sich's besser 
von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es 
das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein 
Mensch sei. Könnt Ihr es selbst finden, so sprecht es aus." Wilhelm 
bedachte sich eine kurze Zeit und schüttelte sodann den Kopf. 
Jene, nach einem anständigen Zaudern, riefen: "Ehrfurcht!" Wilhelm 
stutzte. "Ehrfurcht!" hieß es wiederholt. "Allen fehlt sie, vielleicht Euch 
selbst. 
Dreierlei Gebärde habt Ihr gesehen, und wir überliefern eine dreifache
Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenfließt und ein Ganzes bildet, erst 
ihre höchste Kraft und Wirkung erreicht. Das erste ist Ehrfurcht vor 
dem, was über uns ist. Jene Gebärde, die Arme kreuzweis über die 
Brust, einen freudigen Blick gen Himmel, das ist, was wir unmündigen 
Kindern auflegen und zugleich das Zeugnis von ihnen verlangen, daß 
ein Gott da droben sei, der sich in Eltern, Lehrern, Vorgesetzten 
abbildet und offenbart. Das zweite: Ehrfurcht vor dem, was unter uns 
ist. Die auf den Rücken gefalteten, gleichsam gebundenen Hände, der 
gesenkte,    
    
		
	
	
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