wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sei, der 
andere versetzte, daß es hinter dem Berge liege. "Vielleicht treffe ich 
Sie dort an", fuhr er fort, "ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas 
zu besorgen. Leben Sie solange wohl!" Und mit diesen Worten ging er 
einen steilen Pfad, der schneller über den Berg hinüberzuführen schien. 
"Ja wohl hat er recht!" sagte Wilhelm vor sich, indem er weiterritt. "An 
das Nächste soll man denken, und für mich ist wohl jetzt nichts 
Näheres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Laß sehen, ob 
ich die Rede noch ganz im Gedächtnis habe, die den grausamen Freund 
beschämen soll." 
Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm 
auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Gedächtnis zustatten kam, 
desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden 
und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenwärtig. 
"Geist meiner Freundin!" rief er aus, "umschwebe mich! und wenn es 
dir möglich ist, so gib mir ein Zeichen, daß du besänftigt, daß du
versöhnt seist!" 
Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die Höhe des Berges 
gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein 
wunderliches Gebäude liegen, das er sogleich für Lotharios Wohnung 
hielt. Ein altes, unregelmäßiges Schloß mit einigen Türmen und 
Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch 
unregelmäßiger waren die neuen Angebäude, die, teils nah, teils in 
einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebäude durch 
Galerien und bedeckte Gänge zusammenhingen. Alle äußere 
Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bedürfnis der 
innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und 
Graben war zu sehen, ebensowenig als von künstlichen Gärten und 
großen Alleen. Ein Gemüse- und Baumgarten drang bis an die Häuser 
hinan, und kleine nutzbare Gärten waren selbst in den Zwischenräumen 
angelegt. Ein heiteres Dörfchen lag in einiger Entfernung; Gärten und 
Felder schienen durchaus in dem besten Zustande. 
In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm 
weiter, ohne viel über das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd 
in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem 
Schlosse zu. 
Ein alter Bedienter empfing ihn an der Türe und berichtete ihm mit 
vieler Gutmütigkeit, daß er heute wohl schwerlich vor den Herren 
kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon 
einige seiner Geschäftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, 
und endlich mußte der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zurück 
und führte Wilhelmen in einen großen, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, 
sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben 
werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die 
Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, 
er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in 
Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er 
etwas rauschen hörte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit 
Würde zu empfangen, ihm erst den Brief zu überreichen und ihn dann 
mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen. 
Mehrmals war er schon getäuscht worden und fing wirklich an, 
verdrießlich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitentür 
ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten überrocke
heraustrat. "Was bringen Sie mir Gutes?" sagte er mit freundlicher 
Stimme zu Wilhelmen, "verzeihen Sie, daß ich Sie habe warten lassen." 
Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. 
Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, überreichte ihm das Blatt Aureliens 
und sagte: "Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht 
ohne Rührung lesen werden." 
Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zurück, wo 
er, wie Wilhelm recht gut durch die offne Türe sehen konnte, erst noch 
einige Briefe siegelte und überschrieb, dann Aureliens Brief eröffnete 
und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und 
Wilhelm, obgleich seinem Gefühl nach die pathetische Rede zu dem 
natürlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch 
zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch 
beginnen, als eine Tapetentüre des Kabinetts sich öffnete und der 
Geistliche hereintrat. 
"Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt", rief Lothario 
ihm entgegen; "verzeihn Sie mir", fuhr er fort, indem er sich gegen 
Wilhelmen wandte, "wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt 
bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei 
uns! Und Sie sorgen für unsern Gast, Abbe, daß ihm nichts abgeht." 
Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der 
Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne 
Widerstreben folgte. 
Stillschweigend gingen sie durch wunderliche Gänge und kamen in ein 
gar artiges Zimmer. Der Geistliche führte ihn ein und verließ ihn ohne 
weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der 
sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ankündigte und das 
Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der    
    
		
	
	
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