Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 
Johann Wolfgang von Goethe 
 
Inhalt: 
Bassompierres Geschichte von der schönen Krämerin Ferdinands 
Schuld und Wandlung Der Prokurator 
 
Bassompierres Geschichte von der schönen Krämerin 
Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 
(1795) 
 
"Der Marschall von Bassompierre", sagte er, "erzählt sie in seinen 
Memoiren; es sei mir erlaubt, in seinem Namen zu reden: 
Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, so oft ich über die 
kleine Brücke ging--denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht 
erbauet--, daß eine schöne Krämerin, deren Laden an einem Schilde mit 
zwei Engeln kenntlich war, sich tief und wiederholt vor mir neigte und 
mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf, ich 
sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfältig. Einst ritt ich von 
Fontainebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Brücke 
heraufkam, trat sie an ihre Ladentüre und sagte zu mir, indem ich 
vorbeiritt: "Mein Herr, Ihre Dienerin!" Ich erwiderte ihren Gruß, und 
indem ich mich von Zeit zu Zeit umsah, hatte sie sich weiter vorgelehnt, 
um mir so weit als möglich nachzusehen. 
Ein Bedienter nebst einem Postillon folgten mir, die ich noch diesen
Abend mit Briefen an einige Damen nach Fontainebleau 
zurückschicken wollte. Auf meinen Befehl stieg der Bediente ab und 
ging zu der jungen Frau, ihr in meinem Namen zu sagen, daß ich ihre 
Neigung, mich zu sehen und zu grüßen, bemerkt hätte; ich wollte, wenn 
sie wünschte, mich näher kennenzulernen, sie aufsuchen, wo sie 
verlangte. 
Sie antwortete dem Bedienten, er hätte ihr keine bessere Neuigkeit 
bringen können, sie wollte kommen, wohin ich sie bestellte, nur mit der 
Bedingung, daß sie eine Nacht mit mir unter einer Decke zubringen 
dürfte. 
Ich nahm den Vorschlag an und fragte den Bedienten, ob er nicht etwa 
einen Ort kenne, wo wir zusammenkommen könnten. Er antwortete, 
daß er sie zu einer gewissen Kupplerin führen wollte, rate mir aber, 
weil die Pest sich hier und da zeige, Matratzen, Decken und Leintücher 
aus meinem Hause hinbringen zu lassen. Ich nahm den Vorschlag an, 
und er versprach, mir ein gutes Bett zu bereiten. 
Des Abends ging ich hin und fand eine sehr schöne Frau von ungefähr 
zwanzig Jahren mit einer zierlichen Nachtmütze, einem sehr feinen 
Hemde, einem kurzen Unterrocke von grünwollenem Zeuge. Sie hatte 
Pantoffeln an den Füßen und eine Art von Pudermantel übergeworfen. 
Sie gefiel mir außerordentlich, und da ich mir einige Freiheiten 
herausnehmen wollte, lehnte sie meine Liebkosungen mit sehr guter 
Art ab und verlangte, mit mir zwischen zwei Leintüchern zu sein. Ich 
erfüllte ihr Begehren und kann sagen, daß ich niemals ein zierlicheres 
Weib gekannt habe noch von irgendeiner mehr Vergnügen genossen 
hätte. Den andern Morgen fragte ich sie, ob ich sie nicht noch einmal 
sehen könnte, ich verreise erst Sonntag; und wir hatten die Nacht vom 
Donnerstag auf den Freitag miteinander zugebracht. 
Sie antwortete mir, daß sie es gewiß lebhafter wünsche als ich; wenn 
ich aber nicht den ganzen Sonntag bliebe, sei es ihr unmöglich, denn 
nur in der Nacht vom Sonntag auf den Montag könne sie mich 
wiedersehen. Als ich einige Schwierigkeiten machte, sagte sie: "Ihr 
seid wohl meiner in diesem Augenblicke schon überdrüssig und wollt 
nun Sonntags verreisen; aber Ihr werdet bald wieder an mich denken
und gewiß noch einen Tag zugeben, um eine Nacht mit mir 
zuzubringen." 
Ich war leicht zu überreden, versprach ihr, den Sonntag zu bleiben und 
die Nacht auf den Montag mich wieder an dem nämlichen Orte 
einzufinden. Darauf antwortete sie mir: "Ich weiß recht gut, mein Herr, 
daß ich in ein schändliches Haus um Ihrentwillen gekommen bin; aber 
ich habe es freiwillig getan, und ich hatte ein so unüberwindliches 
Verlangen, mit Ihnen zu sein, daß ich jede Bedingung eingegangen 
wäre. Aus Leidenschaft bin ich an diesen abscheulichen Ort gekommen, 
aber ich würde mich für eine feile Dirne halten, wenn ich zum 
zweitenmal dahin zurückkehren könnte. Möge ich eines elenden Todes 
sterben, wenn ich außer meinem Mann und Euch irgend jemand zu 
Willen gewesen bin und nach irgendeinem andern verlange! Aber was 
täte man nicht für eine Person, die man liebt, und für einen 
Bassompierre? Um seinetwillen bin ich in das Haus gekommen, um 
eines Mannes willen, der durch seine Gegenwart diesen Ort ehrbar 
gemacht hat. Wollt Ihr mich noch einmal sehen, so will ich Euch bei 
meiner Tante einlassen." 
Sie beschrieb mir das Haus aufs genaueste und fuhr fort: "Ich will Euch 
von zehn Uhr bis Mitternacht erwarten, ja noch später, die Türe soll 
offen sein. Erst findet Ihr einen kleinen Gang, in dem haltet Euch nicht 
auf, denn die Türe meiner Tante geht da heraus. Dann stößt Euch eine 
Treppe sogleich entgegen, die Euch ins erste Geschoß führt, wo ich 
Euch mit offnen Armen empfangen werde." 
Ich machte meine Einrichtung, ließ meine Leute und meine Sachen 
vorausgehen und erwartete mit Ungeduld die Sonntagsnacht, in der ich 
das    
    
		
	
	
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