mit den aristotelischen Lehrsätzen, aber sie 
verdankten deren Kenntnis, wie es scheint, meist nicht dem Original, 
sondern den Arbeiten ihrer italienischen Vorgänger. Dies änderte 
sich erst im 17. Jahrh., als der heftige Streit um die "Regeln" in den 
Mittelpunkt des literarischen Interesses trat. Mairet, der die erste 
"regelrechte" Tragödie, "Sophonisbe", (1629) verfaßte, kannte die 
(S. XVII) Poetik aus erster Hand, wie er selbst in der Vorrede zu 
"Silvanire" (1626) bezeugt, und dies gilt natürlich auch von den
Führern in der Cid-Kontroverse (1636--1640), wie Chapelain und 
_Hedelin d'Aubignac_. Corneille selbst aber scheint sie erst am Ende 
seiner dramatischen Laufbahn aus erster Hand kennen gelernt zu haben, 
obwohl er in einigen früheren Vorreden zu seinen Dramen 
wiederholt auf Aristoteles Bezug nimmt. In seinen drei "Discours" 
macht er sodann den freilich vergeblichen Versuch nachzuweisen, 
daß seine Tragödien den Lehren der Poetik allenthalben 
entsprechen. 
Engländern wurde die Poetik durch die Italiener und Franzosen 
vermittelt, doch spielte sie bei ihnen nie eine so große Rolle, und 
auch diese beschränkte sich fast ausschließlich auf jene drei 
"Einheiten." Daß Shakespeare diese kannte, geht aus der Ansprache 
an die Schauspieler im Hamlet, den Prologen zu Heinrich V. und dem 
"Chorus" der Zeit im Wintermärchen (IV(1)) hervor. Da er sich sonst 
ihnen gegenüber noch weit gleichgültiger verhält als seine 
dramatischen Zeitgenossen (ein _Marlow, Jonson, Greene, Beaumont_ 
und _Fletcher_), so möchte ich doch hier nicht unterlassen, 
wenigstens auf eine interessante Tatsache hinzuweisen, weil sie bisher 
m.W. nicht beobachtet worden ist. Die beiden letzten[4] Dramen aus 
seiner Feder sind das "Wintermärchen" und der "Sturm." Während 
nun in dem ersteren die "Einheiten" weit gröblicher verletzt werden 
als in irgend einem anderen Stücke, hat er diese im "Sturm" und in 
ihm allein so streng wie nur irgend möglich durchgeführt. Sollte er 
damit haben zeigen wollen, daß für den wahren Dramatiker die 
Einhaltung oder die Vernachlässigung der Regeln," (S. XVIII) soweit 
die Wirkung in Betracht kommt, gleichgültig ist? Um die Mitte des 
17. Jahrh. haben dann Milton, in der Einleitung zu seiner Tragödie 
"Samson Agonistes" (1671), und insbesondere Dryden, namentlich in 
seinem "Essay über dramatische Poesie" (1668), der aristotelischen 
Poetik ein besonderes Interesse zugewandt, letzterer allerdings ganz 
unter dem Einfluß von _Corneille Rapin, de Bossu_ und Boileau. 
Die Beschäftigung mit unserer Poetik in Deutschland beginnt, wie 
erwähnt, mit Lessing. Goethe und durch ihn veranlaßt auch Schiller 
(nach 1797) haben sich lebhaft mit ihr befaßt. In ihrem 
Gedankenaustausch über die Schrift spiegelt sich die Eigenart der
beiden Dichterfürsten in charakteristischer Weise wieder, doch hat 
man die Empfindung, daß in diesem Briefwechsel Schiller durchaus 
der Gebende ist. Noch wenige Jahre (1826) vor seinem Tode ist Goethe 
in seiner ganz kurzen "Nachlese zur Poetik" nochmals auf den 
Gegenstand zurückgekommen, worin er, wohl durch seine 
künstlerische Weltanschauung verleitet, eine ganz falsche 
Übersetzung des Schlusses der Tragödiendefinition gibt. 
Im 19. Jahrh. ist es, von der mächtigen Wirkung der bereits 
erwähnten Abhandlung von Bernays abgesehen, vor allem die 
Ästhetik, die sich allenthalben mit unserer Poetik auseinandersetzt, so 
_E. Müller, Vischer, Volkelt, Günther, Walter, W. Dilthey, Lippe, 
Bosanquet, Nietzsche, Baumgart_ und _Carrière_, um nur diese zu 
nennen. In den Hauptfragen wie über den Ursprung der Poesie, den 
Begriff des Kunstschönen, den Endzweck der Dichtung, sind manche 
dieser Forscher zwar zu neuen und eigenartigen aber im großen und 
ganzen keineswegs einwandfreieren oder sichereren Ergebnissen 
gelangt, als sie schon in den kurzen, fast ohne Begründung 
hingeworfenen (S. XIX) Lehrsätzen des Aristoteles uns vorliegen. 
* * * * * 
5. Die Quellen der Poetik. 
Originalität ist ein rein relativer Begriff, ja in einem gewissen Sinne 
gibt es eine solche überhaupt nicht, ist doch jeder Denker ein Erbe 
der Vergangenheit[5] und irgendwie von Vorgängern, wenn nicht 
direkt abhängig, so doch, und zwar oft unbewußt, beeinflußt. 
Andrerseits steckt nicht minder häufig in der Art, wie ein Forscher 
den ihm vorliegenden Stoff verarbeitet, in der Beleuchtung, in die er 
ihn rückt, in dem Zusammenhang in den er ihn einreiht oder, falls er 
sich mit ihm im Widerspruch befindet, in der Begründung seines 
entgegengesetzten Standpunkts ein ebenso hoher Grad von 
Selbständigkeit und Originalität als in dem ganz Neuen, das er im 
übrigen bringen mag. So ist denn zweifellos auch die Poetik des 
Aristoteles nicht wie Athene in voller Rüstung aus dem Haupte des 
Zeus entsprungen, auch er hat, und zwar nachweisbar, eine 
umfangreiche Literatur über seinen Gegenstand, vor allem in den
Schriften der Sophisten, schon vorgefunden und so weit zweckdienlich 
verwertet oder auch zu widerlegen sich veranlaßt gefühlt. Gegen 
das Verdammungsurteil, das Platon gegen das Epos und Drama 
geschleudert hat, bildet die Poetik als Ganzes gleichsam einen 
stillschweigenden Protest, der in einer Anzahl Stellen sogar deutlich 
und greifbar hervortritt, obwohl er den Namen seines Lehrers niemals 
nennt. 
Daß einzelne Gedankengänge Platons über die Dichtkunst (S. 
XX) auf Aristoteles eingewirkt, seinen Theorien eine gewisse Richtung 
gegeben und ihn bewogen haben zu ihm seinerseits Stellung zu nehmen, 
ist fast selbstverständlich und allgemein anerkannt.    
    
		
	
	
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