und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem 
Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei 
vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die 
Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, 
zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; 
insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik 
betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; 
insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre 
Zukunft - und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher 
Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem 
Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon 
wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und 
höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel 
Falschheit mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus 
meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das 
Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will 
Täuschung, es lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne 
ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter 
Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, 
"jenseits von Gut und Böse"? - 
2. 
- So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die
"freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch 
mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: 
dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte 
sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu 
bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, 
Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen 
man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu 
lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - 
als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie 
Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen 
von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene 
Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in 
meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte 
ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, 
langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu 
beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen 
Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe? 
- 
3. 
Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist" 
einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein 
entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und 
dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an 
seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? 
welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen 
und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie 
sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten 
und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, 
für die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, 
- ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am 
dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für 
solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele 
wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie 
selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet 
und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, 
fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche 
Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen
ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die 
gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause" 
ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und 
Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen 
Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, 
vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, 
Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die 
Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, 
dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der 
Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass 
sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich 
ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter 
fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: - 
dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der 
grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen 
zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur 
Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien 
Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen 
und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich 
nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er 
schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er 
erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er 
zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er 
verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet:    
    
		
	
	
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