es anfing zu dunkeln, 
kam ich zum Bewußtsein meiner Verwegenheit. Da plötzlich geschah 
etwas so Wundersames, daß ich alles vergaß: die weißen Berge 
bekamen rotglühendes Leben. -- Männergeschrei und ängstliches Rufen 
schreckten mich auf aus der Verzauberung; vom Hotel aus suchte man 
die Ausreißerin. Stumm kehrte ich heim, unempfindlich blieb ich für 
alle Vorwürfe, die mich sonst so bitter trafen; das Erlebte hatte jede 
andre Empfindung in mir ausgelöscht. Nur der Großmutter vertraute 
ich flüsternd das große Geheimnis an: wie die Bergriesen vor mir 
lebendig geworden waren. 
Im Herbst desselben Jahres kehrte Großmama nach Potsdam zurück, 
Mama und ich aber reisten nach Augsburg zu meines Vaters Schwester 
Klotilde. Sie hatte sich mit Baron Artern, dem jüngeren Bruder ihrer 
Tante Kleve, bei der sie erzogen worden war, vermählt gehabt und war 
nach kurzem strahlendem Glück Witwe geworden. Monatelang schien 
es, als ob ihr sehnsüchtiger Wunsch, dem Toten zu folgen, erfüllt 
werden würde, und es war mein Vater, der ihr in dieser Zeit mit der 
ganzen hingebungsvollen Liebe und zarten Rücksicht, deren er fähig 
war, zur Seite gestanden und sie dem Leben zurückgewonnen hatte. Er 
war es wohl auch gewesen, der ihr den Gedanken nahe legte, uns zu 
sich einzuladen. Es gibt kaum eine heilendere Kraft für alle 
Lebenswunden als die weichen Hände, die klaren Augen und das helle 
Lachen eines Kindes, -- ihr war sie versagt geblieben; in mir, so hoffte
mein Vater, sollte sie sie finden. 
An einem trüben Oktoberabend kamen wir in Augsburg an. In 
Trauerlivree empfing uns der Diener am Bahnhof, dunkel war die 
Equipage, dunkel waren die engen winkligen Straßen, und grau, wie 
leblos, starrten die alten Häuser mir entgegen. In einen hallenden 
Torweg, den nur eine unruhig flackernde Lampe spärlich erhellte, bog 
der Wagen, und vor einer breiten, teppichbelegten Treppe mit 
kunstvollem schmiedeeisernem Geländer stiegen wir aus. Eine alte 
Dienerin mit großem Schlüsselbund über der schwarzseidenen Schürze 
begrüßte uns zuerst; oben, wie eine Fürstin, wartete des Hauses Herrin 
auf uns. Der Kreppschleier verhüllte sie fast ganz, nur das weiße 
Gesicht und die roten Haare leuchteten daraus hervor. Weinend 
umarmte sie ihre Gäste, und erschüttert von dem Eindruck der neuen 
Umgebung weinte ich mit ihr. »Du gutes Kind,« sagte sie und küßte 
mich zärtlich; ich hatte ihr Herz gewonnen. 
Ein seltsames Leben begann für mich in dem grauen Hause mit seinen 
langen, düstern Gängen, an deren Wänden ein dunkles Bild neben dem 
andern hing, mit seinen mächtigen schwarzbraunen Schränken und den 
tiefen, tiefen Teppichen, über die der Fuß unhörbar hinglitt. Die Türen 
waren mit Fries eingefaßt, um jedes Geräusch zu vermeiden, und die 
Klingeln hatten einen dunkeln Ton. Meine Tante vertrug nicht den 
geringsten Lärm. Man hatte mir das streng eingeschärft, aber ich wäre 
hier auch ohnedies ganz still gewesen. Nur im Stübchen bei der alten 
Kathrin, der Wirtschafterin, die mich schnell in ihr Herz schloß, durfte 
ich lachen und toben, und draußen bei allen den vielen Verwandten und 
Freunden fühlte ich mich aus dem Traumreich in die Welt 
zurückversetzt. Die erste Mädcheneitelkeit ist damals von ihnen in mir 
großgezogen worden. Sie umgaben mich förmlich mit der wohligen 
weichen Treibhausluft der Bewunderung; und wenn meine Mutter auch, 
sobald wir allein waren, Worte wie Hagelschauer und Gewitterregen 
abkühlend hernieder brausen ließ, so sah ich darin doch nichts weiter, 
als daß sie mir die Freude eben wieder einmal nicht gönnen wolle. 
Hatte ich mich früher, weil ich anders war, zurückgesetzt gefühlt, war 
ich mir im Vergleich zu meinen helläugigen Gespielen häßlich 
vorgekommen, so wurde ich allmählich meiner Besonderheit als eines
Vorzugs bewußt. 
In meinem Zimmer, das ich allein bewohnte -- Mademoiselle war auf 
Urlaub bei ihren Eltern in der Schweiz geblieben --, stand ein 
verschlossener Schrank. Ich studierte durch die Glastüren die Titel auf 
den Rücken der Bücher, soweit das meine ziemlich unzureichende 
Kenntnis der deutschen Buchstaben zuließ; französisch war mir bisher 
allein geläufig geworden. Auf einer Reihe großer Quartbände 
wiederholten sich immer dieselben Worte: »Die Geschichten aus 
tausend und einer Nacht.« »Tausend und eine Nacht«, -- hieß nicht so 
das Buch mit den bunten Bildern, aus dem mir Großmama Aladins 
seltsame Abenteuer vorgelesen hatte? Niemand erzählte mir Märchen 
in Augsburg, die alte Kathrin wußte nur immer dieselben 
Gespenstergeschichten, ach, wenn ich doch selber lesen könnte! 
Heimlich versuchte ich, mit allen Schlüsseln, die mir erreichbar waren, 
den Schrank zu öffnen, um zu den Schätzen zu gelangen, die er barg. 
Endlich, endlich sprang er auf. Wie gut, daß ich Halsweh hatte und 
Tante und Mama allein spazieren gefahren waren! Mit klopfendem 
Herzen nahm ich einen Band nach dem andern heraus -- ich sehe noch 
ihr gebräuntes Leder vor mir und ihr gelbes, stockfleckiges Papier! -- 
und betrachtete die vielen Bilder darin: Geister und Ungeheuer, Männer 
auf sich bäumenden Rossen mit krummen Säbeln und hohem Turban 
und wunder-, wunderschöne Frauen. Von nun an hatte ich häufig 
»Halsschmerzen« und ließ mir mit rührender Geduld    
    
		
	
	
	Continue reading on your phone by scaning this QR Code
	 	
	
	
	    Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the 
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.