Jenseits von Gut und Böse | Page 8

Friedrich Wilhelm Nietzsche
zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint,

dass die hundertfach widerlegte Theorie vom "freien Willen" ihre
Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt -: immer wieder kommt
jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen.
19.
Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die
bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen,
der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne
Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass
Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen
eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und
übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes,
Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte
steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht
der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger,
seien wir "unphilosophisch" -, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens
eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von
dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von
diesem "weg" und "hin" selbst, dann noch ein begleitendes
Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir "Arme und Beine" in
Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir "wollen",
sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als
Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch
Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden
Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem
"Wollen" abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig
bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und
Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des
Commando's. Das, was "Freiheit des Willens" genannt wird, ist
wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der
gehorchen muss: "ich bin frei, "er" muss gehorchen" - dies Bewusstsein
steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit,
jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte
Werthschätzung "jetzt thut dies und nichts Anderes Noth", jene innere
Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch
zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will -, befiehlt
einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es
gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist,

- an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort
hat: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und
Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens,
Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort
nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir
andererseits die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge
des synthetischen Begriffs "ich" hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen,
hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen
Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens
selbst angehängt, - dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben
glaubt, Wollen genüge zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur
gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der
Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der
Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von
Wirkung gäbe; genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad
von Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien -, er
rechnet das Gelingen, die Ausführung des Wollens noch dem Willen
selbst zu und geniesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls,
welches alles Gelingen mit sich bringt. "Freiheit des Willens" - das ist
das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt
und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, - der als
solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich
urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände
überwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der
ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren "Unterwillen"
oder Unter-Seelen - unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler
Seelen - zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu. L'effet c'est moi:
es begiebt sich hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen
Gemeinwesen begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den
Erfolgen des Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt es
sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage,
wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler "Seelen": weshalb ein
Philosoph sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter
den Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von
den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen
"Leben" entsteht. -
20.

Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts
Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft
zu einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie
auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch
eben so gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der
Fauna eines Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher
die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von
möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem
unsichtbaren Banne
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