Jenseits von Gut und Böse | Page 6

Friedrich Wilhelm Nietzsche
werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche
Urtheile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich:
synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "möglich sein": wir
haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche
Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als ein
Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik
des Lebens gehört. - Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu
gedenken, welche "die deutsche Philosophie" - man versteht, wie ich
hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen? - in ganz Europa ausgeübt hat,
so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva dabei
betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggängern,
Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und
politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen
Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen
Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses
hinüberströmte, kurz -"sensus assoupire".......
12.
Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den
bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in Europa
Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum

bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der
Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen - Dank
vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus,
bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war.
Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle
Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an
das Letzte, was von der Erde "feststand", abschwören, dem Glauben an
den "Stoff", an die "Materie", an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom:
es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden
errungen worden ist. - Man muss aber noch weiter gehn und auch dem
"atomistischen Bedürfnisse", das immer noch ein gefährliches
Nachleben führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem
berühmteren "metaphysischen Bedürfnisse" - den Krieg erklären, einen
schonungslosen Krieg auf's Messer: - man muss zunächst auch jener
anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen,
welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der
Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben zu
bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges,
Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben
soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns gesagt,
ganz und gar nicht nöthig, "die Seele" selbst dabei los zu werden und
auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten:
wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche,
kaum dass sie an "die Seele" rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg
zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht
offen: und Begriffe wie "sterbliche Seele" und "Seele als
Subjekts-Vielheit" und "Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und
Affekte" wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben.
Indem der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der
bisher um die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit
wucherte, hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Öde und ein
neues Misstrauen hinaus gestossen - es mag sein, dass die älteren
Psychologen es bequemer und lustiger hatten -: zuletzt aber weiss er
sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt - und, wer weiss?
vielleicht zum Finden. -
13.
Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als

kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will
etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille zur
Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten
Folgen davon. - Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen
teleologischen Principien! - wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb
ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza's -). So nämlich gebietet
es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.
14.
Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur
eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub
gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf
den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange
hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und
Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für
sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack
bezaubernd, überredend, überzeugend, - es folgt ja instinktiv dem
Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar,
was "erklärt"? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, - bis so weit
muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben
gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen
Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter
Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne
erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren
Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben:
und dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den
bunten Sinnen-Wirbel - den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte - warfen. Es
war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und
Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns
die Physiker von Heute
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