Im Schatten der Titanen | Page 9

Lily Braun
der
finanziellen Nöte gesichert. Im März 1810, als Jerome und Katharina
mit großem Gefolge der Einladung Napoleons zu seiner Hochzeit mit
der Österreicherin nach Paris gefolgt waren, leuchtete ihm wieder die
volle Sonne kaiserlicher Huld. Napoleon, auf der Höhe seines Glücks,
wollte nur Glückliche um sich sehen, und der Zauber von Paris, der
Glanz der üppigen Feste ließen Jerome alles Leid vergessen und seiner
Jugend schrankenlos froh werden. Bilder und Berichte der Zeit
schildern ihn, wie er in weißem, goldgesticktem Sammetkostüm, die
weißen, wallenden, von blitzender Brillantagraffe gehaltenen Federn
auf dem Sammetbarett, das feingeschnittene dunkle Gesicht mit den
großen glänzenden Augen von strahlendem Frohsinn erhellt, alle
Herzen im Sturm zu erobern wußte. Er und Pauline, seine Schwester,
das waren im Kreise dieser napoleonischen Olympier die Götter der
Jugend und Schönheit, und die seligen Zeiten, da er als Knabe, von
allen verwöhnt, unter den Zimmern des großen Bruders wohnte,
schienen wiedergekehrt zu sein.
Voll neuer Hoffnungen und frischen Tatendrangs kehrte er nach Kassel
zurück. Der Plan eines Kanals zwischen Elbe und Weser wurde
ausgearbeitet, die Anlage eines Kriegshafens in Kuxhaven begonnen,

wichtige und kostspielige Regulierungen der Elbe- und
Wesermündungen in Angriff genommen. Da traf ihn ein neuer Schlag:
Napoleon nahm den wertvollsten Teil der dem Königreich Westfalen
inzwischen neu einverleibten hannoverschen Lande wieder in
französischen Besitz und hatte auf die Vorhaltungen des nach Paris
entsandten Ministers von Bülow nur die eine Antwort: "Ich nehme es,
weil ich es brauche." Jerome berief seine Minister und diktierte eine
Note, durch die er in schärfster Form als Entschädigung für Hannover
Lippe, Anhalt, Waldeck, Schwarzburg und die sächsischen
Herzogtümer verlangte. Reinhard gegenüber sprach er wieder von
seiner Abdankung, die mehr und mehr ein Gebot der Ehre für ihn sei.
Der kaiserliche Gesandte berichtete unverzüglich über diese
Unterredung nach Paris und fügte hinzu: "Wenn jemals der König mir
Gelegenheit gegeben hat, die Geradheit und Sicherheit seines Geistes
zu bewundern und der Vornehmheit seiner Gesinnung Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, so war es bei dieser Gelegenheit."[29] "Ich
glaube, hätte Jerome eine Armee von 300000 Mann, er würde mir den
Krieg erklären!" rief Napoleon beim Empfang dieser Nachrichten.[30]
Aber so groß auch Jeromes Entrüstung, so tief sein Stolz auch verletzt
war -- eine Empfindung behielt zuletzt bei ihm immer die Oberhand:
die Bewunderung und Ehrfurcht vor der Größe seines Bruders. Mitten
im härtesten Winter nach der Zurücknahme von Hannover zog er sich,
um seinen Schmerz in der Stille zu überwinden, auf das Land zurück
und schrieb von da aus an den Kaiser: "Entspricht es Ew. Majestät
politischen Absichten, Westfalen mit dem Kaiserreiche zu vereinigen,
so habe ich nur den einen Wunsch, davon sofort in Kenntnis gesetzt zu
werden, um nicht in die Lage zu kommen, deren Maßnahmen, trotz des
besten Willens, mich ihnen stets anzupassen, fortwährend zu
durchkreuzen ... Ich bin aller Opfer, aller Beweise meiner
Anhänglichkeit fähig, wenn Ew. Majestät es verlangt. Soll ich aber
weiter regieren, so kann es nur unter Bedingungen sein, die mich nicht
entwürdigen."[31] Die Antwort war -- Mahnungen zur
Kriegsbereitschaft, zu neuen Aushebungen, zum Unterhalt neuer
französischer Truppendurchzüge. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die
alles Vorhergegangene übertraf, führte der Marschall Davout, Jeromes
alter Feind, seine Armee durch Westfalen; in Kassel einziehend,

ignorierte er den König, im ganzen Reiche hausten seine Soldaten wie
in Feindesland. Und Napoleon schien blind und taub zu sein für das
drohende Schicksal, das sich langsam vorbereitete, für die
zähneknirschende Wut, die die Faust noch in der Tasche ballte, aber
schon heimlich nach offenen Waffen Umschau hielt. Jerome sah das
Unheil wachsen, und als einziger vielleicht, der es damals wagte, dem
Imperator mit einer selbständigen Meinung gegenüberzutreten, schrieb
er ihm am 5. Dezember 1811 folgenden denkwürdigen Brief:[32]
"In einer Lage, die mich zum äußersten Vorposten Frankreichs macht,
durch Neigung und Pflicht dazu getrieben, alles zu beobachten, was
sich auf Ew. Majestät Interessen beziehen kann, ist es, denke ich,
richtig und notwendig, Sie mit aller Offenheit über das zu informieren,
was in meiner Nähe vor sich geht. Ich beurteile die Ereignisse
vollkommen ruhig; ich sehe der Gefahr entgegen, ohne sie zu fürchten;
aber ich muß Ew. Majestät die Wahrheit sagen, und ich hoffe, Sie
vertrauen mir genug, um sich auf meine Art, die Dinge zu sehen,
verlassen zu können.
Ich weiß nicht, wie Ihre Generäle und Ihre Agenten Ihnen die jetzige
Situation in Deutschland darstellen; wenn sie Ihnen von Unterwerfung,
von Ruhe und Schwäche sprechen, so werden Sie von ihnen getäuscht
und betrogen. Die Gärung ist aufs höchste gestiegen; die verwegensten
Hoffnungen werden unterhalten und mit Begeisterung großgezogen;
man hält sich an das Beispiel Spaniens, und wenn der Krieg ausbrechen
sollte, so wird das ganze Land vom Rhein bis zur Oder der Herd einer
ausgedehnten und tatkräftigen Empörung sein.
Die Hauptursache dieser gefährlichen Bewegungen ist nicht allein der
Haß gegen die Franzosen und der Unwille gegen das Joch der
Fremdherrschaft, sie liegt noch weit mehr
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