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Hermann und Dorothea 
Johann Wolfgang Goethe 
Inhalt: 
Erster Gesang: Kalliope. Schicksal und Anteil 
Zweiter Gesang: Terpsichore. Hermann 
Dritter Gesang: Thalia. Die Bürger 
Vierter Gesang: Euterpe. Mutter und Sohn 
Fünfter Gesang: Polyhymnia. Der Weltbürger 
Sechster Gesang: Klio. Das Zeitalter 
Siebenter Gesang: Erato. Dorothea 
Achter Gesang: Melpomene. Hermann und Dorothea 
Neunter Gesang: Urania. Aussicht 
Kalliope
Schicksal und Anteil 
"Hab ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen! Ist 
doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht funfzig, Deucht 
mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern. Was die Neugier 
nicht tut! So rennt und läuft nun ein jeder, Um den traurigen Zug der 
armen Vertriebnen zu sehen. Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn, 
ist's immer ein Stündchen, Und da läuft man hinab, im heißen Staube 
des Mittags. Möcht' ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen 
das Elend Guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe, 
Leider, das überrheinische Land, das schöne, verlassend, Zu uns 
herüberkommen und durch den glücklichen Winkel Dieses fruchtbaren
Tals und seiner Krümmungen wandern. Trefflich hast du gehandelt, o 
Frau, daß du milde den Sohn fort Schicktest, mit altem Linnen und 
etwas Essen und Trinken, Um es den Armen zu spenden; denn Geben 
ist Sache des Reichen. Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt 
die Hengste! Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; 
bequemlich Säßen viere darin, und auf dem Bocke der Kutscher. 
Diesmal fuhr er allein; wie rollt es leicht um die Ecke!" So sprach, 
unter dem Tore des Hauses sitzend am Markte, Wohlbehaglich, zur 
Frau der Wirt zum Goldenen Löwen. 
Und es versetzte darauf die kluge verständige Hausfrau: "Vater, nicht 
gerne verschenk ich die abgetragene Leinwand, Denn sie ist zu 
manchem Gebrauch und für Geld nicht zu haben, Wenn man ihrer 
bedarf. Doch heute gab ich so gerne Manches bessere Stück an 
Überzügen und Hemden, Denn ich hörte von Kindern und Alten, die 
nackend dahergehn. Wirst du mir aber verzeihn? denn auch dein 
Schrank ist geplündert. Und besonders den Schlafrock mit indianischen 
Blumen, Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert, Gab 
ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode." 
Aber es lächelte drauf der treffliche Hauswirt und sagte: "Ungern 
vermiß ich ihn doch, den alten kattunenen Schlafrock, Echt 
ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder. Wohl! ich trug 
ihn nicht mehr. Man will jetzt freilich, der Mann soll Immer gehn im 
Surtout und in der Pekesche sich zeigen, Immer gestiefelt sein; 
verbannt ist Pantoffel und Mütze." 
"Siehe!" versetzte die Frau, "dort kommen schon einige wieder, Die 
den Zug mit gesehn; er muß doch wohl schon vorbei sein. Seht, wie 
allen die Schuhe so staubig sind! wie die Gesichter Glühen! und 
jeglicher führt das Schnupftuch und wischt sich den Schweiß ab. 
Möcht' ich doch auch in der Hitze nach solchem Schauspiel so weit 
nicht Laufen und leiden! Fürwahr, ich habe genug am Erzählten." 
Und es sagte darauf der gute Vater mit Nachdruck: "Solch ein Wetter 
ist selten zu solcher Ernte gekommen, Und wir bringen die Frucht 
herein, wie das Heu schon herein ist, Trocken; der Himmel ist hell, es 
ist kein Wölkchen zu sehen, Und von Morgen wehet der Wind mit
lieblicher Kühlung. Das ist beständiges Wetter! und überreif ist das 
Korn schon; Morgen fangen wir an zu schneiden die reichliche Ernte." 
Als er so sprach, vermehrten sich immer die Scharen der Männer Und 
der Weiber, die über den Markt sich nach Hause begaben; Und so kam 
auch zurück mit seinen Töchtern gefahren Rasch, an die andere Seite 
des Markts, der begüterte Nachbar, An sein erneuertes Haus, der erste 
Kaufmann des Ortes, Im geöffneten Wagen (er war in Landau 
verfertigt). Lebhaft wurden die Gassen; denn wohl war bevölkert das 
Städtchen, Mancher Fabriken befliß man sich da, und manches 
Gewerbes. 
Und so saß das trauliche Paar, sich unter dem Torweg Über das 
wandernde Volk mit mancher Bemerkung ergötzend. Endlich aber 
begann die würdige Hausfrau und sagte: "Seht! dort kommt der 
Prediger her, es kommt auch der Nachbar Apotheker mit ihm: die 
sollen uns alles erzählen, Was sie draußen gesehn und was zu schauen 
nicht froh macht." 
Freundlich kamen heran die beiden und grüßten das Ehpaar, Setzten 
sich auf die Bänke, die hölzernen, unter dem Torweg, Staub von den 
Füßen schüttelnd, und Luft mit dem Tuche sich fächelnd. Da begann 
denn zuerst, nach wechselseitigen Grüßen, Der Apotheker zu sprechen 
und sagte, beinahe verdrießlich: "So sind die Menschen fürwahr! und 
einer ist doch wie der andre, Daß er zu gaffen sich freut, wenn den 
Nächsten ein Unglück befället! Läuft doch jeder, die Flamme zu sehn, 
die verderblich emporschlägt, Jeder den armen Verbrecher, der peinlich 
zum Tode geführt wird. Jeder spaziert nun hinaus, zu schauen der guten 
Vertriebnen Elend, und niemand bedenkt, daß ihn das ähnliche 
Schicksal Auch,    
    
		
	
	
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