Sozialdemokratie. Die älteren unter Ihnen erinnern sich wohl noch der 
Agitationsrede, welche der »Drechslergeselle August Bebel« im 
Sommer 1871[2] hier im Engelsaale gehalten hat. Wenn schon diese in 
den meisten Punkten meinen Widerspruch herausforderte, so hat sie 
mir doch einen nachhaltigen Impuls gegeben, angesichts der 
wirtschaftlichen Vorgänge in meinem Umkreis immer die Augen offen 
zu halten und insonderheit alles, woran ich selbst beteiligt war, unter 
dem Bewußtsein strenger Verantwortung zu betrachten. Des weiteren 
aber waren mir von wesentlicher Hilfe zur Gestaltung meiner 
Ansichten die wichtigen Ausführungen der Bodenbesitzreformer, die 
mir durch die Schriften Flürscheims und durch unseren Freund Dr. 
Harmening näher gebracht worden sind. 
* * * * * 
Meine Aufgabe sehe ich nun hier ausschließlich darin: diejenigen 
Punkte namhaft zu machen, an welchen die bisherigen Bestrebungen 
der entschieden freisinnigen Parteien Anknüpfung darbieten zur 
Weiterbildung des Parteiprogramms in der Richtung auf fruchtbare 
soziale Reformen. Ich habe sodann in concreto zu zeigen, daß
gegenüber unbestreitbaren sozialen Übeln und Gefahren, die in den 
gegenwärtigen Zuständen gegeben sind, wirkliche Reformen, welche 
den Übeln an die Wurzel gehen, nicht bloß an ihren Symptomen 
kurieren wollen, möglich sind ohne Umwälzung der Gesellschafts- und 
Wirtschafts-Ordnung, vielmehr durch Maßnahmen, die auf dem Boden 
der bestehenden Staatseinrichtungen von der Gesetzgebung -- wenn die 
entscheidenden Faktoren nur wollen -- ohne weiteres eingeleitet und 
schrittweise durchgeführt werden können. Denn es soll sich nicht 
handeln dürfen um irgend welche Zukunftsideale, deren 
Verwirklichung, wenn überhaupt denkbar, erst als Endergebnis eines 
jahrhundertelangen Umbildungsprozesses möglich wäre, sondern um 
bestimmte Anforderungen, die vernünftigerweise an die heutige 
Gesetzgebung gestellt werden können. Für das soziale Programm einer 
politischen Reformpartei dürfen nur Anforderungen in Betracht 
kommen, deren Erfüllung, wie groß auch die Widerstände sein möchten, 
die sie von Seiten bestimmter Interessengruppen zunächst zu 
gewärtigen haben, doch nichts weiter zur Voraussetzung hat, als die 
allmähliche Überwindung solcher Widerstände. 
Es sind nun drei Punkte, auf welche ich in solchem Sinne hier 
einzugehen gedenke: die Steuergesetzgebung, die mit dem 
»Arbeiterschutz« zusammenhängenden Fragen, und Angelegenheiten 
der Volksbildung. Ich beziehe mich dabei vorzugsweise auf den 
Programmentwurf, welchen der verdiente Führer der Gewerkvereins- 
und Genossenschaftsbestrebungen, Dr. Max Hirsch, schon auf dem 
ersten Parteitag der Freisinnigen Volkspartei eingebracht hat, von 
welchem Entwurf wohl anzunehmen ist, daß er auf dem nächsten 
Parteitag in den Mittelpunkt der Diskussion treten werde. 
Selbstverständlich aber habe ich dabei nicht minder im Auge das schon 
um einige Schritte weiter entwickelte soziale Programm der Deutschen 
Volkspartei, mit welcher in enge Fühlung zu treten der norddeutsche 
Freisinn wohl als eine wichtige Angelegenheit zu betrachten haben 
wird. 
Für den heutigen Abend beschränke ich mich übrigens ganz auf den 
zuerst angeführten Gegenstand, die Besteuerungsfragen -- zu welchem 
ich das Folgende anzubringen habe.
Die Bekämpfung des Systems indirekter Steuern und die Forderung, 
alle Staatsbedürfnisse anzuweisen auf direkte Steuern, gehören von 
jeher zu den gemeinsamen Bestrebungen aller wirklich liberalen 
Parteien in Deutschland. Natürlich ist auch für uns kein Wort mehr zu 
verlieren über die Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit einer 
Besteuerungsart, welche die Reichen verhältnismäßig ganz wenig 
belastet und deshalb, damit überhaupt »etwas einkomme«, den weitaus 
größten Teil der Staatslasten auf die Masse der arbeitenden 
Bevölkerung abwälzen, dadurch aber die Lebenshaltung der breiten 
Volksschichten entsprechend herabdrücken muß. Auch die 
Nationalliberale Partei hat diese Ansicht geteilt, so lange sie noch in 
anderem Sinn als heute eine »liberale« Partei war. -- Zuzugeben ist 
natürlich auch, daß eine direkte Besteuerung des Einkommens 
allerdings jene Ungerechtigkeit, als solche, um so vollkommener 
beseitigen könnte, in je schärferer Progression dabei die größeren 
Einkommen herangezogen würden. Nichtsdestoweniger finde ich in der 
Forderung solcher progressiven Einkommensteuer immer noch ein 
großes sozialpolitisches Defizit. Es ist nämlich für ein Steuersystem 
nicht genug, daß es, rein steuerrechtlich betrachtet, korrekt oder gerecht 
sei. In jedem Staatswesen, welches nicht geradewegs auf den 
»Zukunftsstaat« hinführen will, oder auf die Katastrophen, welche 
dieses Wort ankündigt, muß meines Erachtens der Steuergesetzgebung 
noch eine andere, eine spezifisch soziale, staatserhaltende Funktion 
zugewiesen werden -- nämlich der Regulator zu sein für das Verhältnis 
zwischen Kapital und Arbeit und das Korrektiv zu liefern gegen 
gewisse zerstörende Wirkungen der unkontrollierten 
privat-kapitalistischen Produktionsweise. 
Solche zerstörende Wirkungen -- deren Dasein und fortwährendes 
Anwachsen heute keine Kunst der Rede mehr hinwegdisputieren wird 
-- sind aber zu erblicken in der fortwährend zunehmenden 
Tributpflichtigkeit aller Arbeit zugunsten des Besitzes und in der damit 
Hand in Hand gehenden fortschreitenden Konzentration des Besitzes 
auf eine immer kleiner werdende Minorität des Volkes. Unter diesem 
Gesichtspunkt -- den ich sogleich näher entwickeln werde -- komme 
ich dazu, dem Programm der demokratischen Parteien in bezug auf die 
Besteuerungsfrage eine wesentlich anders lautende Forderung an die
Gesetzgebung zu empfehlen, die ich vorgreifend -- um gleich hier den 
Zielpunkt der nachfolgenden Erörterungen erkennbar zu machen -- 
dahin formuliere: 
Beseitigung der indirekten Steuern und auch Beseitigung aller 
Besteuerung des Arbeitseinkommens. Anweisung aller Bedürfnisse von 
Staat und Reich auf eine reine Vermögenssteuer, welche, nach oben 
progressiv, alle größeren Vermögen besteuert annähernd mit dem 
Prozentsatz des jeweiligen Boden-    
    
		
	
	
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