Fräulein Julie | Page 4

August Strindberg
Er ist seiner Umgebung bereits fremd,
welche er als zurückgelegtes Stadium verachtet und dennoch fürchtet
und flieht, da sie seine Geheimnisse kennen, seine Absichten ausspüren,
voll Neid sein Steigen sehen und mit Vergnügen seinen Fall erwarten.
Daher sein zweideutiger, unentschiedener Charakter, der zwischen
Sympathie für das, was auf der Höhe steht, und Haß gegen diejenigen,
die nun oben sind, hin- und herschwankt. Er ist, wie er selbst sagt,
Aristokrat, hat die Geheimnisse der guten Gesellschaft gelernt, ist
gewandt im Benehmen, aber bisweilen roh, trägt bereits mit Eleganz
den Überrock, ohne jedoch eine Garantie zu bieten, daß er rein auf dem
Körper ist.
Er hat Respekt vor dem Fräulein, aber Angst vor Christine, da sie seine
gefährlichen Geheimnisse kennt; er ist gefühllos genug, nicht die
Ereignisse der Nacht störend in seine Zukunftspläne eingreifen zu
lassen. Mit der Rohheit des Knechtes und dem Mangel an
Weichherzigkeit des Herrschers kann er Blut sehen, ohne zu erblassen,
ein Mißgeschick auf den Rücken nehmen und es aus dem Wege
schleudern; darum geht er auch unverwundet aus dem Kampfe hervor
und endet wahrscheinlich als Hotelwirt, und wenn er nicht rumänischer
Graf wird, so wird sein Sohn wahrscheinlich Student und
möglicherweise Kronvogt.
Es sind übrigens recht wichtige Aufklärungen, die er über die
Lebensauffassung der unteren Klassen giebt, wenn er nämlich die
Wahrheit spricht, was nicht oft der Fall ist, denn er spricht mehr, was
für ihn vorteilhaft, als was wahr ist. Wenn Fräulein Julie die

Vermutung aufwirft, daß alle in den unteren Klassen den Druck von
oben so schwer empfinden, so stimmt Jean natürlich bei, da es ja seine
Absicht ist, ihre Sympathie zu gewinnen, aber er korrigiert sofort seine
Äußerung, wenn er es für vorteilhafter hält, sich von der Masse zu
scheiden.
Außerdem daß Jean ein Steigender ist, steht er auch darin über dem
Fräulein, daß er ein Mann ist. Geschlechtlich ist er Aristokrat durch
seine männliche Stärke, seine feiner entwickelten Sinne und seine
Fähigkeit zur Initiative. Seine Unterlegenheit besteht zunächst in dem
zufälligen socialen Milieu, in welchem er lebt, und welches er
wahrscheinlich mit dem Bedientenrock ablegen kann.
Der Knechtssinn äußert sich in seiner Hochachtung für den Grafen (die
Stiefeln) und seinem religiösen Aberglauben; aber er achtet den Grafen
vornehmlich als den Inhaber des höheren Platzes, nach welchem er
strebt; und diese Achtung bleibt sogar noch zurück, wenn er die
Tochter des Hauses erobert hat und gesehen, wie leer die schöne Schale
war.
Daß ein Liebesverhältnis in »höherem« Sinne zwischen zwei Seelen
von so ungleichem Gehalt entstehen könnte, glaube ich nicht, und
darum lasse ich Fräulein Juliens Liebe von ihr selbst als
Entschuldigung oder Verteidigung erdichten; und Jean lasse ich
vermuten, daß seine Liebe noch unter andern socialen Verhältnissen
würde hervorwachsen können. Ich denke, es ist mit der Liebe wohl wie
mit der Hyacinthe, welche im Dunkeln Wurzel schlagen soll, bevor sie
eine kräftige Blüte treiben kann. Hier schießt sie empor und setzt
Blüten an, und darum erstirbt das Gewächs so schnell.
Christine endlich ist ein weiblicher Knecht, voll Unselbständigkeit und
Stumpfsinn, den sie am Herdfeuer erworben, vollgepropft mit Moral
und Religion als Deckmantel und Sündenbock. Sie geht zur Kirche, um
leicht und schnell ihre Hausdiebstähle auf Jesus abzuwälzen und eine
neue Ladung Sündenvergebung einzunehmen. Übrigens ist sie eine
Nebenperson und darum absichtlich nur skizziert, wie ich es mit dem
Pfarrer und Doktor im »Vater« gemacht habe, da ich sie gerade als
Alltagsmenschen haben wollte, wie Landpfarrer und Provinzialärzte es

meist zu sein pflegen. Und daß diese meine Nebenfiguren etwas
abstrakt erscheinen, beruht darauf, daß die Alltagsmenschen in
gewissem Sinne in Ausübung ihres Berufes abstrakt, das heißt
unselbständig sind; sie zeigen bei der Verrichtung ihres Berufes nur
eine Seite, und solange der Zuschauer nicht das Bedürfnis empfindet
sie von mehreren Seiten zu sehen, ist meine abstrakte Schilderung
ziemlich richtig.
Was schließlich den Dialog anbetrifft, so habe ich mit der Tradition
insofern ein wenig gebrochen, als ich meine Personen nicht zu
Katecheten gemacht habe, welche sitzen und dumme Fragen stellen,
um eine prompte Replik hervorzurufen. Ich habe das Symmetrische,
das Mathematische in dem französisch konstruierten Dialog vermieden
und die Gehirne ungehindert arbeiten lassen, wie sie es in der
Wirklichkeit thun, wo in einem Gespräch das Thema ja nicht völlig
erschöpft wird, sondern das eine Gehirn von dem andern gleichsam
aufs Geratewohl einen Radzahn empfängt, in welchen es eingreifen
kann. Und darum wogt der Dialog auch hin und her, versieht sich in
den ersten Scenen mit einem Material, welches später bearbeitet,
wiederaufgenommen, repetiert, entwickelt und wiederaufgelegt wird,
gleich dem Thema in einer musikalischen Komposition.
Die Handlung ist reich genug, und da sie eigentlich nur zwei Personen
angeht, habe ich mich auf sie beschränkt, und nur eine Nebenperson
eingeführt, die Köchin, und den unglücklichen Geist des Vaters über
und hinter dem Ganzen schweben lassen. Dieses Letztere habe ich
gethan, da ich zu bemerken geglaubt habe, daß für Menschen der
neueren
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