Fräulein Julie | Page 3

August Strindberg
einseitig aufzufassen, bleibt noch sogar
der große Molière stehen. Harpagon ist nur geizig, obgleich Harpagon
hätte geizig und zugleich ein ausgezeichneter Finanzier, ein prächtiger

Vater, ein guter Bürger sein können, und was schlimmer ist, sein
Gebrechen ist gerade äußerst vorteilhaft für seine Tochter und seinen
Schwiegersohn, welche ihn beerben und ihn daher nicht tadeln dürfen,
wenn sie auch ein wenig warten müssen, bis sie sich kriegen. Daher
glaube ich nicht an einfache Theatercharaktere. Und gegen das
summarische Urteil der Verfasser über die Menschen: der ist dumm,
der ist brutal, der ist eifersüchtig, der ist geizig u.s.w. sollte von den
Naturalisten Einspruch erhoben werden, welche wissen, wie reich der
Seelenkomplex ist, und welche verstehen, daß das Laster eine
Rückseite hat, welche sehr stark der Tugend ähnelt.
Als moderne Charaktere, die in einer Übergangszeit leben, welche
mehr eilig hysterisch als zum mindesten die vorhergehende ist, habe
ich meine Figuren schwankender, zerrissener, von Altem und Neuem
zusammengesetzter geschildert, und es scheint mir nicht
unwahrscheinlich, daß moderne Ideen durch die Zeitungen und
Gespräche auch in die Gesellschaftsschichten hinabgedrungen sein
können, in denen selbst ein Dienstbote sich bewegt.
Meine Seelen (Charaktere) sind Konglomerate von vergangenen
Kulturgraden und Brocken der angehenden Zeit, welche aus Büchern
und Zeitungen entlehnt wurden, Stücke von Menschen, abgerissene
Fetzen von Feiertagskleidern, welche zu Lumpen geworden sind, ganz
wie die Seele zusammengeflickt ist. Und ich habe außerdem ein wenig
Entwicklungsgeschichte gegeben, indem ich den Schwächeren stehlen
und Worte wiederholen lasse von dem Stärkeren, die Seelen »Ideen«,
Suggestionen, wie es genannt wird, voneinander holen lasse.
Fräulein Julie ist ein moderner Charakter, nicht als wenn es das
Halbweib, die Männerhasserin, nicht zu allen Zeiten sollte gegeben
haben, sondern darum, weil es jetzt entdeckt, hervorgetreten ist und
Lärm gemacht hat. Das Halbweib ist ein Typus, welcher sich
hervordrängt, sich jetzt für Macht, Ansehn, Auszeichnungen und
Diplome, sowie früher für Geld verkauft und die Entartung andeutet. Es
ist keine gute Art, denn sie ist nicht lebensfähig, pflanzt sich aber leider
mit all' ihrem Elend noch ein Glied fort, und entartete Männer scheinen
unbewußt die Auswahl unter ihnen zu treffen, sodaß sie sich vermehren

und Wesen unbestimmten Geschlechtes hervorbringen, welchen das
Leben eine Qual ist, die aber glücklicherweise zu Grunde gehen,
entweder in Disharmonie mit der Wirklichkeit oder infolge
unaufhaltsamen Hervorbrechens des unterdrückten Triebes, oder der
getäuschten Hoffnungen den Mann nicht erlangen zu können. Der
Typus ist tragisch, da er das Schauspiel eines verzweifelten Kampfes
gegen die Natur darbietet, tragisch als ein romantisches Erbe, welches
nun von dem Naturalismus zerstreut wird, der nur das Glück will, und
zum Glücke gehören starke und lebensfähige Arten.
Aber Fräulein Julie ist auch ein Überbleibsel des alten Kriegeradels,
welcher jetzt vor dem neuen Nerven- oder Großgehirn-Adel untergeht;
ein Opfer der Disharmonie, welche der Mutter »Schuld« in eine
Familie hineinbringt, ein Opfer der Verirrungen der Zeit, der Umstände
und ihrer eigenen schwächlichen Konstitution, was alles zusammen
soviel bedeutet, als: das Schicksal früherer Zeiten oder die
Weltordnung. Die Schuld hat der Naturalist mit Gott zusammen
ausgestrichen, aber die Folgen der That, die Strafe, Haftbarkeit oder die
Furcht davor, kann nicht gestrichen werden, aus dem einfachen Grunde,
weil sie bestehen bleiben, ob er nun freispricht oder nicht, denn die
Leute, denen Unrecht geschehen, sind nicht so wohlwollend gestimmt,
wie diejenigen, denen keins widerfahren, es billig sein können. Selbst
wenn der Vater aus zwingenden Gründen auf die Strafe verzichten
sollte, würde die Tochter sie an sich selbst vollziehen müssen, wie sie
es hier thut, infolge des angeborenen oder erworbenen Ehrgefühls,
welches die höheren Klassen ererben -- von wo? Von der Barbarei, von
der asiatischen Urheimat, von dem Rittertum des Mittelalters? -- und
welches sehr schön ist, jetzt aber unvorteilheit für das Bestehen der Art.
Es ist des Edelmannes »Harakiri«, des Japanesen Gewissensgesetz,
welches ihm gebietet sich den Leib aufzuschlitzen, wenn ein anderer
ihn beschimpft, welches in modifizierter Form im Duell, dem
Adelsprivilegium, weiterlebt. Darum bleibt der Bediente Jean am
Leben, aber Fräulein Julie kann nicht leben ohne Ehre. Das ist der
Vorzug des Knechtes vor dem Herrn, daß er frei ist von diesem
lebensgefährlichen Vorurteil betreffs der Ehre; und in uns alten Ariern
existiert etwas vom Edelmann oder Don Quijote, was bewirkt, daß wir
mit dem Selbstmörder sympathisieren, welcher eine ehrlose Handlung

begangen und so seine Ehre verloren hat, und wir sind genug Edelleute,
um Schmerz zu empfinden, wenn wir eine gefallene Größe daliegen
sehen, selbst wenn der Gefallene sich erheben könnte, und suchen es
durch ehrenvolle Handlungen wiedergutzumachen. Der Diener Jean ist
ein Artbilder, einer, bei welchem sich die Differenzierung bemerkbar
macht. Er ist ein Kätners Sohn und hat sich nun zu einem werdenden
Herrn ausgebildet. Es ist ihm leicht geworden zu lernen, da er fein
entwickelte Sinne hatte (Geruch, Geschmack, Gesicht) und
Schönheitssinn. Er hat sich bereits emporgeschwungen und ist stark
genug, es sich nicht übel zu nehmen, aus den Diensten anderer
Menschen Vorteile zu ziehen.
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