Die schönsten Geschichten der Lagerlöf | Page 9

Selma Lagerlöf
geht rasch durch den Hof, öffnet ganz leise die Türe und
steht in dem Zimmer der Knaben, ohne daß einer von ihnen ihn hätte
kommen hören. Und richtig: die Knaben fahren mit ganz roten Köpfen
auf, und Lennart reißt ängstlich ein Bündel Papiere an sich, das er in
die Schreibtischlade wirft.
Als die Knaben ein paar Tage in Stockholm waren, da hatten sie gefragt,
in welche Schule sie gehen würden, und Vater hatte geantwortet, mit
ihrem Schulbesuch sei es jetzt aus. Er würde versuchen, einen Meister
zu finden, der sie in die Lehre nehmen wollte. Dies hatte er jedoch nie
ins Werk gesetzt, und die Knaben hatten auch nicht weiter von ihrem
Schulbesuch gesprochen. Doch nach kaum einer Woche hing in dem
Zimmer der Knaben ein Stundenplan an der Wand. Schulbücher
wurden hervorgesucht, und jeden Vormittag saßen die Knaben an
einem alten Schreibtisch und machten Aufgaben. Es war offenbar: sie
hatten einen Brief von Mutter bekommen, der sie ermahnte, auf eigne
Faust zu arbeiten, um nicht alles zu vergessen, was sie gelernt hätten.
Als Vater jetzt so unerwartet zu ihnen hereinkommt, geht er zuerst hin
und studiert den Stundenplan. Er zieht seine Uhr heraus und vergleicht.
Mittwoch von zehn bis elf: Geographie. Dann kommt er an den Tisch
heran. »Hättet ihr in dieser Stunde nicht eigentlich Geographie?« fragt
er. -- »Ja,« antworten die Knaben, flammend rot im Gesicht. -- »Aber
wo habt ihr das Geographiebuch und den Atlas?« -- Die Knaben werfen
einen Blick auf das Bücherbrett und sehen tödlich verlegen aus. »Wir
haben noch nicht angefangen,« sagt Lennart. -- »So, so,« sagt Vater.
»Ihr habt wohl etwas andres vor.« Und er richtet sich ganz vergnügt auf.
Er hat jetzt die Oberhand, und die will er behalten, bis er die Knaben
gründlich an die Wand gedrückt hat.
Die beiden Knaben schweigen. Seit dem Tage, da sie mit Vater in die
Oper gingen, haben sie Mitleid mit ihm, und es hat ihnen nicht soviel
Überwindung gekostet wie früher, artig gegen ihn zu sein. Aber
natürlich haben sie keinen Augenblick daran gedacht, Vater ins
Vertrauen zu ziehen. Er ist in ihrem Ansehen nicht gestiegen, wenn er
ihnen auch leid tut.
»Habt ihr einen Brief geschrieben?« fragt Vater mit seiner strengsten

Stimme. -- »Nein,« rufen die beiden Knaben wie aus einem Munde. --
»Was habt ihr denn getan?« -- »Wir haben nur geplaudert.« -- »Das ist
nicht wahr! Ich habe gesehen, wie Lennart etwas in die
Schreibtischlade gesteckt hat.« -- Jetzt schweigen die beiden Knaben
wieder. -- »Nehmt es heraus!« ruft Vater, rot vor Zorn. Er glaubt, daß
die Söhne an seine Frau geschrieben hätten; und da sie ihm den Brief
nicht zeigen wollten, stünde natürlich etwas Häßliches über ihn darin.
Die Knaben rühren sich nicht, und Vater hebt die Hand, um nach
Lennart zu schlagen, der vor der Schublade sitzt. -- »Rühr' ihn nicht
an!« ruft Hugo. »Wir haben nur über etwas gesprochen, was Lennart
sich ausgedacht hat.«
Hugo schiebt Lennart weg, reißt die Lade auf und zieht einen Bogen
Papier hervor, der mit Luftschiffen in den wunderlichsten Formen
vollgekleckst ist. »Lennart hat sich heute nacht ein neues Segel für sein
Luftschiff ausgedacht. Und darüber haben wir gesprochen.«
Vater will ihm nicht glauben. Er beugt sich hinunter, durchsucht die
Lade, findet aber nichts andres als Bogen Papier, bedeckt mit
Zeichnungen, die Luftballons, Fallschirme, Flugmaschinen und alles
andre vorstellen, was zur Luftschiffahrt gehört.
Zum größten Staunen der Knaben schleudert Vater dies alles nicht
gleich fort, er lacht auch nicht über ihre Versuche, sondern er betrachtet
Blatt für Blatt genau. Vater hat nämlich auch ein wenig Anlage zur
Mechanik; und er hat sich einstmals, als sein Hirn noch zu etwas taugte,
für solche Dinge interessiert. Bald beginnt er Fragen nach dem Zweck
von diesem und jenem zu stellen; und da seine Worte verraten, daß er
großen Anteil nimmt und das, was er sieht, versteht, bekämpft Lennart
seine Verlegenheit und antwortet ihm zuerst zögernd, doch allmählich
mit immer größerer Bereitwilligkeit.
Bald sind Vater und die Kinder in eine tiefsinnige Diskussion über
Luftschiffe und Flugmaschinen vertieft. Nachdem sie so recht in Zug
gekommen sind, plaudern die Knaben unbefangen und teilen Vater alle
ihre Pläne und Träume mit. Und wenn Vater auch begreift, daß die
Knaben mit den Luftschiffen, die sie jetzt konstruieren, nicht weit
fliegen können, imponiert ihm die ganze Sache doch. Seine kleinen

Söhne sprechen von Aluminiummotoren, Äroplanen und
Gleichgewichtslagen wie von den selbstverständlichsten Dingen. Er hat
sie für rechte Dummköpfe gehalten, weil sie in der Schule nicht gut
vorwärts kamen. Jetzt scheint es ihm mit einem Male, daß sie ein paar
kleine Gelehrte seien.
Und hochfliegende Gedanken und Hoffnungen, -- das versteht Vater
besser als irgend jemand. Er erkennt es wieder: er hat selbst so
geträumt und hat durchaus keine Lust, über solche Träume zu lachen.
An diesem Vormittag geht Vater nicht mehr aus, sondern bleibt
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