Die schönsten Geschichten der Lagerlöf | Page 8

Selma Lagerlöf
sei. Sie sollten
zärtlich und liebevoll gegen ihn sein. Sie dürften nie vergessen, wie
unglücklich er wäre.
»Wenn Ihr so recht gut gegen Vater seid, dann hat er vielleicht Mitleid
mit Euch und läßt Euch wieder nach Hause zu mir kommen,« schreibt
Mutter.
Mutter erzählt, daß sie beim Pfarrer und beim Bürgermeister gewesen
sei, um zu fragen, ob es nicht möglich wäre, die Knaben wieder zu
bekommen. Aber alle beide hätten ihr gesagt, daß es keinen Ausweg
gebe. Die Knaben müßten bei ihrem Vater bleiben. Mutter wolle gern
nach Stockholm übersiedeln, um ihre Jungen wenigstens ab und zu
sehen zu können, aber alle Menschen rieten ihr, sich zu gedulden und
noch zu warten. Sie glaubten, daß Vater die Knaben bald satt
bekommen und sie wieder heimschicken werde. Mutter wisse nicht
recht, was sie tun solle. Einerseits finde sie es schrecklich, daß ihre
Knaben in Stockholm ohne irgend jemand lebten, der sich ihrer
annehme; und andrerseits wisse sie: wenn sie ihr Heim verließe und

ihre Anstellung aufgäbe, könnte sie sie nicht bei sich aufnehmen und
versorgen, falls sie frei würden. Aber zu Weihnachten werde Mutter
auf jeden Fall nach Stockholm kommen und nach ihnen sehen.
Die Knaben schreiben und erzählen, was sie den ganzen Tag tun,
Stunde für Stunde. Sie lassen Mutter wissen, daß sie Vater das Essen
holen und ihm das Bett machen. Sie begreift, daß sie sich bemühen, ihr
zuliebe gut gegen ihn zu sein, aber sie merkt, daß sie ihn nicht besser
leiden können als früher.
Ihre kleinen Jungen scheinen immer einsam zu sein. Sie wohnen in
einer großen Stadt, wo es von Menschen wimmelt, aber niemand fragt
nach ihnen, niemand beachtet sie. Und vielleicht ist es noch am besten
so. Wer weiß, in was sie hineingeraten könnten, wenn sie irgendwelche
Bekanntschaften machten!
Sie bitten sie immer, sich ihrethalben keine Sorgen zu machen. Sie
würden sich schon durchschlagen. Sie erzählen, daß sie sich die
Strümpfe stopfen und die Knöpfe annähen. Sie deuten auch an, daß
Lennart mit seiner Erfindung sehr weit gekommen sei, und sagen, daß
alles gut sein werde, sowie die fertig wäre.
Aber Mutter lebt in beständiger Angst. Tag und Nacht sind ihre
Gedanken bei den Knaben. Tag und Nacht betet sie zu Gott, er möge
über ihre kleinen Söhne wachen, die einsam in einer großen Stadt leben,
ohne irgend jemand, der ihre Augen gegen die Lockungen der
Verderbnis schützt und ihre jungen Herzen vor der Lust zum Bösen
bewahrt.
* * * * *
Vater und die Knaben sitzen eines Vormittags in der Oper. Einer von
Vaters früheren Kollegen, der der Hofkapelle angehört, hat ihn
eingeladen, der Probe zu einem Symphoniekonzert beizuwohnen, und
Vater hat die Knaben mitgenommen. Als das Orchester einsetzt und das
Haus von den Tonwellen erfüllt wird, gerät Vater in so heftige
Bewegung, daß er sich nicht beherrschen kann, sondern zu weinen
anfängt. Er schluchzt, schneuzt sich geräuschvoll und stöhnt einmal um

das andere auf. Er legt sich gar keinen Zwang mehr an, sondern wird so
laut, daß die Spielenden gestört werden. Ein Diener kommt und winkt
ihm ab, darauf nimmt Vater die Knaben bei der Hand und schleicht sich
ohne ein Wort des Widerspruchs hinaus, und den ganzen Heimweg
hören seine Tränen nicht auf zu fließen.
Vater hat die Hände der Knaben in den seinen behalten und geht mit
einem Jungen an jeder Seite einher. Ganz plötzlich fangen auch die
Knaben zu weinen an. Sie verstehen nun zum ersten Male, wie Vater
seine Kunst geliebt hat. Es war entsetzlich für ihn gewesen, versoffen
und verkommen dazusitzen und andre spielen zu hören. Es war ein
Jammer, daß er nicht das geworden war, was er hätte werden sollen. Es
war für Vater so, wie es für Lennart wäre, wenn er seine Flugmaschine
nie fertig brächte, oder für Hugo, wenn er keine Entdeckungsreise
machen dürfte. Zu denken, daß sie einmal als untaugliche Greise
dasitzen und sich zu Häupten prächtige Luftschiffe dahinbrausen sehen
sollten, die sie weder erfunden hätten noch lenken dürften!
* * * * *
Die Jungen sitzen eines Vormittags daheim und haben ihre Bücher vor
sich. Vater hat eine Notenrolle unter den Arm genommen und ist
ausgegangen. Er hat etwas davon gemurmelt, daß er eine Musiklektion
zu geben hätte, aber die Knaben haben sich keinen Augenblick
einreden lassen, daß dies die Wahrheit sei.
Vater ist schlechter Laune, wie er so über die Straße geht. Er hat den
Blick bemerkt, den die Knaben wechselten, als er sagte, daß er zu einer
Musiklektion ginge. »Sie werfen sich zum Richter auf über ihren
Vater,« denkt er.
»Ich bin zu nachsichtig gegen sie. Ich hätte jedem eine Ohrfeige geben
sollen. Sicherlich hetzt ihre Mutter sie gegen mich auf.«
»Wie wäre es, wenn ich mich ein wenig nach den Herrchen umsähe?«
fährt er fort. »Es könnte gewiß nichts schaden, sich zu überzeugen, wie
sie ihren Studien obliegen.«

Er kehrt um,
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