vierzehn Maultieren in kurzem Trabe 
die breite Straße des Mont Cenis hinaufgeschleppt wurde. Obwohl der 
Himmel herrlich ausgestirnt war, lag doch nur ein schwacher Schein 
auf den Tälern zur Seite des Weges, aus denen die schweren Wipfel der 
Kastanien heraufragten, so daß man auf den Genuß der Aussicht 
verzichten mußte. Und da Peitschenknall, Zuruf der Maultiertreiber, die 
neben ihren langgespannten Tieren bergan liefen, und das hundertfache 
Schellengeläute auch einen gesunden Schlaf nicht aufkommen ließen, 
mußte ein deutscher Schriftsteller noch zufrieden sein, wenn er 
dreitausend Fuß über dem Meeresspiegel einen so wohlwollenden
Rezensenten neben sich fand, wie mein Coupénachbar bei aller 
Meinungsverschiedenheit zu sein schien. Wir waren schon von Turm 
aus die Bahnstrecke bis ans Gebirge zusammen gefahren, schweigsam 
jeder in einen Winkel gedrückt. Erst der Namensaufruf bei der 
Verteilung der Plätze hatte das Eis gebrochen, da wir uns beide nicht 
ganz fremd waren. 
Kennen Sie Pisa? fragte er, nachdem er seine Zigarre an der Pfeife des 
Franzosen angezündet hatte. 
Ich erzählte ihm, daß ich erst vor kurzem volle vierzehn Tage in dieser 
stillsten aller Universitätsstädte der Welt Studierens halber zugebracht 
hätte. 
Nun, dann kennen Sie am Ende meine Witwe vom Sehen oder doch 
vom Hören. Sind Sie nie in der breiten Straße, die der Borgo heißt, an 
einem Hause mit grünen Jalousien vorbeigekommen und haben aus 
einem Fenster des ersten Stockwerkes eine schmetternde Sopranstimme 
jenes Duett aus der "Norma" singen hören: Ah sin' all' ore all' ore 
estreme--? 
Ich verneinte. 
Danken Sie Ihrem Schöpfer, sagte er mit einem Seufzer, der aus einer 
hartgeprüften Brust zu kommen schien. Sehen Sie, diese Stimme war 
mein Verderben. Ich bin leider ganz unmusikalisch, sonst hätte sie 
mich vielleicht gewarnt, statt mich ins Netz zu locken. Aber wenn man 
in ein paar Dutzend unsäuberlichen Studentenwohnungen 
herumgekrochen ist--die besseren möblierten Zimmer waren, mitten im 
Semester, schon längst vergeben--, und hört dann aus einem reinlichen 
Hause, an dem der Mietszettel hängt, eine Frauenstimme flöten, so 
werden Sie begreifen, daß man eine Stimme des Himmels zu 
vernehmen glaubt, auch wenn man ein besserer Musikus ist als ich. Ich 
muß aber erst voranschicken, was ich eigentlich in Pisa zu suchen hatte. 
Sehen Sie, das hängt so zusammen. Ich bin Architekt, wie Sie wissen. 
In dem kleinen deutschen Raubstaat, den ich als mein engeres, leider 
viel zu enges Vaterland pflichtschuldigst liebe und ehre, bin ich, ohne 
Ruhm zu melden, so ziemlich der einzige meines Faches, der etwas zu
bauen versteht, was über die landläufigen Menschenställe von drei 
Stockwerken hinausgeht. Wenn Sie einmal durch N. kommen sollten, 
versäumen Sie nicht, unser neues Zeughaus anzusehen, worin die 
sieben Landeskanonen sorgfältig unter Schloß und Riegel gehalten 
werden, damit sie nicht über die Landesgrenze wegschießen. Dieses 
Arsenal habe ich gebaut und mir dadurch nicht nur den Dank des 
Vaterlandes, sondern auch die besondere Gunst unseres Serenissimus 
erworben. Wenn er noch einmal seinen Lieblingsplan ausführt, eine 
Mauer um sein Land aufführen zu lassen nach dem Muster der 
chinesischen, kann ich dieses ruhmreichen Auftrages sicher sein. 
Vorläufig hat er mir seine Huld auf eine unscheinbarere, aber mir 
angenehmere Weise bezeigt, indem er mich mit einem 
wissenschaftlichen Auftrage nach Italien schickte. Wir besitzen 
nämlich als eine der Hauptsehenswürdigkeiten unserer Residenz mitten 
im Schloßpark einen schiefen Turm. Böswillige, unpatriotische 
Menschen behaupten, es sei mit dieser künstlerischen Merkwürdigkeit 
sehr natürlich zugegangen, da ein später angelegter Karpfenteich in der 
Nähe dieses ehemaligen Wachttürmchens den Boden ringsumher 
aufgeweicht und so die Senkung verursacht habe. Man kann unseren 
Landesvater nicht stärker beleidigen, als wenn man diese 
hochverräterische Meinung äußert. Als er daher eines Tages auch mich 
um mein sachverständiges Urteil befragte, war ich Diplomat genug, zu 
antworten, ich sei, da ich Italien nicht kenne, außerstande, 
nachzuweisen, in welchem historischen Zusammenhange unser schiefer 
Turm mit den berühmteren von Pisa, Bologna, Modena u.s.w. stehen 
möchte. Nur ein umfassendes Studium des gesamten mittelalterlichen 
Schiefbaues könne zu einer gerechten Würdigung unserer heimatlichen 
monumentalen Romantik das Material liefern. Das wirkte. Schon Tags 
darauf erhielt ich durch Kabinettsschreiben den allerhöchsten Auftrag, 
eine Kunstreise nach Italien auf ein ganzes Jahr anzutreten, um auf 
Kosten der Kabinettskasse Studien zu einem umfassenden Werk über 
die schiefen Türme Italiens und Deutschlands zu machen. Ich ging um 
so freudiger darauf ein, weil ich mich vor kurzem verlobt hatte und 
ohne eine solche höhere Mission mich schwerlich so bald losgerissen 
hätte, das gelobte Land endlich mit Augen zu sehen, was ich doch 
meinem Beruf längst schuldig gewesen wäre.
Erlauben Sie mir zu bemerken, sagte ich, daß nach diesen Mitteilungen 
Ihre Erfahrungen mit italienischen Mädchen und Frauen mir nicht mehr 
so beweiskräftig scheinen wie vorher. Ein deutscher Bräutigam, der 
besonders auf alles Schiefgewachsene sein Augenmerk zu richten 
hat-Im allerhöchsten Auftrage! fiel er mir lachend ins Wort. Aber ein 
Jahr ist lang, und sowohl der Herr des Landes als die Herrin meines 
Herzens werden es verzeihlich finden, daß ich mich in den 
Mußestunden auch mit geradegewachsenen Schönheiten beschäftigt 
habe.    
    
		
	
	
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