Die Stufe | Page 9

Franziska Mann
Fragen, nichts als Fragen, als überflüssige Fragen,
deren Qualen von Seligkeiten doch nicht zu unterscheiden sind. --
Dies alles schreibe ich Dir in seelischer Scham. Mit dem gleichen, nein,
hundertfach verstärkten Empfinden bitte ich Dich, beigefügtes Gedicht
als Dein Eigentum zu betrachten. Es ist wieder ganz im Gefühl des
Triebhaften entstanden; ich selbst kann nicht beurteilen, ob es mir
gelang, die Macht und die Echtheit der Empfindungen, aus denen es
geboren, so zum Ausdruck zu bringen, daß es zitternd in Dir nachklingt.
Keinen anderen Ruhm könnte ich je erstreben als den, einen
Widerschein in Deinen Blicken aufleuchten zu sehen -- keinen sonst --
--
Gestern, nachdem ich Dich verlassen, las ich wieder einmal Deine
Briefe, um den Strom von Güte, menschlichem Verstehen, Reinheit
und -- tiefster Zärtlichkeit zu fühlen, der von Dir ausgeht. Von der
Macht dieser Zärtlichkeit scheinst Du selbst nichts zu wissen, von
dieser stillen Innigkeit, die soviel bindender ist als Du es weißt und --
als es Dir erwünscht ist.
Geliebteste, Du bist krank, nur wenig krank, aber ich darf Dich nicht
sehen. Schreiben konntest Du heute auch nicht. Meines täglichen
Brotes bin ich beraubt. Nur solange meine bisher ungesungenen Lieder
sich wie frohe Sieger ins Leben drängen, ertrage ich die Oede der Tage.
Mit dem, was in meinen besten Augenblicken sich in mir erhebt, kann
ich nicht zu Dir stürmen. Aber immer sehe ich Dich dennoch, ich suche
Deine Hand, meine Lippen neigen sich auf Deine schlanken Finger.
Glaube mir, Maria, nie ist eine Frau schwärmerischer und doch auch
mit tieferer Ehrfurcht geliebt worden als Du. Vergiß nun endlich, daß
wir mit der herrschenden Gesellschaftsordnung in Konflikt geraten sind.
Was liegt daran? Fürchtest Du plötzlich Dein Sondergepräge?
Unmöglich: eine Natur wie Du, muß, solange sie lebt, in gewissem

Grade unabgeschlossen bleiben. Dein Erschrecken paßt nicht zu Dir.
Lasse Dich überzeugen. Noch in zehn Jahren, nein, in zwanzig Jahren
wirst Du nicht vor Umwälzungen in Deinem Innern sicher sein. Was
wußtest Du denn mit Bestimmtheit? Etwa, daß ich Dir eine neue
Brücke für die Zukunft werden könnte, ich, der Unbelebtesten einer?
Du süße Warnerin wußtest ja auch nicht aus eigener Erfahrung, daß
Liebe das Rätselvollste ist und mit der Bedeutung oder dem Wert
dessen, was der andere ist, nicht im Zusammenhange stehen muß. --
Die beiden Tage ohne Dich haben mich zum Grübler gemacht. Solange
ich denken kann, hat niemand dem, was ich fühlte, edle Teilnahme
zugewandt; -- vielleicht Alltags-Teilnahme, aber was bedeutet sie? Oft
mehr Hemmung als Befruchtung. Tausendmal werde ich es Dir
wiederholen müssen: »Da fing mein Leben an, als ich Dich liebte.« Du
allein, nur Du, Maria, konntest mich aus der Zufallsgemeinschaft mit
den Vielen erlösen. Anfangs war es nur Deine mütterliche Heiligkeit,
die mich zu Dir trieb. Noch kann ich Dir die Sekunde genau bestimmen,
welche die erste leise Verschiebung hervorgerufen hat. Ich stand vor
Dir, wie so oft bereits; Du sprachst anspornend, anfeuernd mit mir.
Nichts hatte sich verändert. Da -- plötzlich war's, als sähe ich überall,
wohin ich blickte, blühende, glühende Rosen. Eine seltsam verwirrende
Beklemmung zitterte minutenlang in meiner Seele. An diesem Tage
kam ich zum ersten Male nicht mehr von meiner Mutter -- nicht mehr
nur von meiner Mutter. Stundenlang wanderte ich nachher am Kanal
entlang. So schön, nein, so schön war die Erde nie: alle Leute schienen
Menschen geworden, die ihre störenden Eigenschaften abgelegt hatten.
Für immer glaubte ich von allem Gewohnten und Gewöhnlichen befreit
zu sein. -- Ich konnte mich nicht entschließen, das hohe Mietshaus zu
betreten, in dem ich wohne; zu weit bin ich allem entrückt gewesen,
was zwischen Mauern sein Dasein fristen kann; ringsumher in der Luft
schimmerte ein Schein, der den Tag kündete, obwohl ich wußte, daß
noch viele Stunden bis zum Sonnenaufgang verrinnen mußten. --
Werde ich morgen, endlich, endlich wieder das Rauschen Deines
Gewandes vernehmen? Werde ich Deinen Blick fühlen, der tief und
zärtlich in den meinen sinkt? Werde ich, ehe ich noch bei Dir sein darf,
meine Lippen auf die Blätter eines Briefes pressen können?

Maria, Sancta Maria, ich liebe Dich grenzenlos.
Dein, immer, immer
Dein Roland.
Nachschrift:
Das Gedicht, welches ich mit ins Kuvert lege, bewerte nicht kritisch,
nur Dein Herz soll von seiner Echtheit ergriffen werden.
Mein Weg zu Dir -- wie den ich deuten soll? Von bunten Blüten ist er
übervoll, Die leuchten, wo mein Fuß auch immer schreitet, Und
goldner Glanz ist über sie gebreitet. Kein nüchternes und graues
Häusermeer Seh ich auf meinem Wege um mich her: Umspielt ist alles
rings von lichtem Schimmer -- Die Menschen, die ich treffe, lächeln
immer -- Und lächelnd schau ich ihnen ins Gesicht: So scheinen sie
verklärt vom gleichen Licht, Das wohl aus meiner trunknen Seele
strahlt Und alles, alles glühend übermalt. Die letzte Straße ist von
Deinem Bild So ganz durchleuchtet und so ganz erfüllt, Daß Traum
und Wirklichkeit sich
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