Trude", antwortete das Mädchen noch immer kniend. "Ihr 
habt so grausam lang geschlafen, daß alles Laub und alle Kreatur
verschmachten will!" 
Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich, 
aus schweren Träumen zu kommen. 
Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: "Stürzt denn der Quell nicht 
mehr?" 
"Nein, Frau Trude", erwiderte Maren. 
"Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?" 
"Er steht in der heißen Sonne und schläft." 
"Weh!" wimmerte die Regenfrau. "So ist es hohe Zeit. Steh auf und 
folge mir, aber vergiß nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!" 
Maren tat, wie ihr geheißen, und beide stiegen nun an der Seite des 
Gesteins hinauf.--Noch mächtigere Baumgruppen, noch wunderbarere 
Blumen waren hier der Erde entsprossen, aber auch hier war alles welk 
und düftelos.--Sie gingen an der Rinne des Baches entlang, der hinter 
ihnen seinen Abfall vom Gestein gehabt hatte. Langsam und 
schwankend schritt die Trude dem Mädchen voran, nur dann und wann 
die Augen traurig umherwendend. Dennoch meinte Maren, es bleibe 
ein grüner Schimmer auf dem Rasen, den ihr Fuß betreten, und wenn 
die grauen Gewänder über das dürre Gras schleppten, da rauschte es so 
eigen, daß sie immer darauf hinhören mußte. "Regnet es denn schon, 
Frau Trude?" fragte sie. 
"Ach nein, Kind, erst mußt du den Brunnen aufschließen!" 
"Den Brunnen? Wo ist denn der?" 
Sie waren eben aus einer Gruppe von Bäumen herausgetreten. "Dort!" 
sagte die Trude, und einige tausend Schritte vor ihnen sah Maren einen 
ungeheuren Bau emporsteigen. Er schien von grauem Gestein zackig 
und unregelmäßig aufgetürmt; bis in den Himmel, meinte Maren, denn 
nach oben hinauf war alles wie in Duft und Sonnenglanz zerflossen.
Am Boden aber wurde die in riesenhaften Erkern vorspringende Front 
überall von hohen spitzbogigen Tor- und Fensterhöhlen durchbrochen, 
ohne daß jedoch von Fenstern oder Torflügeln selbst etwas zu sehen 
gewesen wäre. 
Eine Weile schritten sie gerade darauf zu, bis sie durch den Uferabsturz 
eines Stromes aufgehalten wurden, der den Bau rings zu umgeben 
schien. Auch hier war jedoch das Wasser bis auf einen schmalen Faden, 
der noch in der Mitte floß, verdunstet; ein Nachen lag zerborsten auf 
der trockenen Schlammdecke des Strombettes. 
"Schreite hindurch!" sagte die Trude. "Über dich hat er keine Gewalt. 
Aber vergiß nicht, von dem Wasser zu schöpfen; du wirst es bald 
gebrauchen!" 
Als Maren, dem Befehl gehorchend, von dem Ufer herabtrat, hätte sie 
fast den Fuß zurückgezogen, denn der Boden war hier so heiß, daß sie 
die Glut durch ihre Schuhe fühlte. Ei was, mögen die Schuhe 
verbrennen! dachte sie und schritt rüstig mit ihrem Kruge weiter. 
Plötzlich aber blieb sie stehen; der Ausdruck des tiefsten Entsetzens trat 
in ihre Augen. Denn neben ihr zerriß die trockene Schlammdecke, und 
eine große braunrote Faust mit krummen Fingern fuhr daraus hervor 
und griff nach ihr. 
"Mut!" hörte sie die Stimme der Trude hinter sich vom Ufer her. 
Da erst stieß sie einen lauten Schrei aus, und der Spuk verschwand. 
"Schließe die Augen!" hörte sie wiederum die Trude rufen.--Da ging 
sie mit geschlossenen Augen weiter; als sie aber das Wasser ihren Fuß 
berühren fühlte, bückte sie sich und füllte ihre Krug. Dann stieg sie 
leicht und ungefährdet am andern Ufer wieder hinauf. 
Bald hatte sie das Schloß erreicht und trat mit klopfendem Herzen 
durch eines der großen offenen Tore. Drinnen aber blieb sie staunend 
an dem Eingange stehen. Das ganze Innere schien nur ein einziger 
unermeßlicher Raum zu sein. Mächtige Säulen von Tropfstein trugen in 
beinahe unabsehbarer Höhe eine seltsame Decke; fast meinte Maren, es
seinen nichts als graue riesenhafte Spinngewebe, die überall in 
Bauschen und Spitzen zwischen den Knäufen der Säulen herabhingen. 
Noch immer stand sie wie verloren an derselben Stelle und blickte bald 
vor sich hin, bald nach einer und der andern Seite, aber diese 
ungeheuren Räume schienen außer nach der Front zu, durch welche 
Maren eingetreten war, ganz ohne Grenzen zu sein; Säule hinter Säule 
erhob sich, und wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nirgends 
ein Ende absehen. Da blieb ihr Auge an einer Vertiefung des Bodens 
haften. Und siehe! Dort, unweit von ihr, war der Brunnen; auch den 
goldenen Schlüssel sah sie auf der Falltür liegen. 
Während sie darauf zuging, bemerkte sie, daß der Fußboden nicht etwa, 
wie sie es in ihrer Dorfkirche gesehen, mit Steinplatten, sondern überall 
mit vertrockneten Schilf- und Wiesenpflanzen bedeckt war. Aber es 
nahm sie jetzt schon nichts mehr wunder. 
Nun stand sie am Brunnen und wollte eben den Schlüssel ergreifen; da 
zog sie rasch die Hand zurück. Denn deutlich hatte sie es erkannt, der 
Schlüssel, der ihr in dem grellen Licht eines von außen hereinfallenden 
Sonnenstrahl entgegenleuchtete, war von Glut und nicht von Gold rot. 
Ohne Zaudern goß sie ihren Krug darüber aus, daß das Zischen des 
verdampfenden Wassers in den weiten Räumen widerhallte. Dann 
schloß sie rasch den Brunnen auf. Ein frischer Duft stieg aus    
    
		
	
	
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