hatte die dunkle 
Empfindung, als müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel 
ihm der Besitz der Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut 
habe, sie erwerben zu können. Besonders den Umstand seiner Freude 
und Erwartung wollte er betonen. Indessen haßte und verachtete er 
gleichzeitig den fremden Eindringling, und in einer Aufwallung dieser 
Gefühle bot er zehn Mark. Der Doktor machte ein faunisch entzücktes 
Gesicht und eine triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte 
beifällig und schnupfte geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte. 
Jedoch andere Gesichter sah der Lehrer auf sich gerichtet, deren 
prüfender Hohn ihn erschreckte, und als der Provisor nachlässig noch
weiter steigerte, verließ er schweren Schrittes den Raum mit den 
Gefühlen eines Menschen, über den ein falscher Urteilsspruch ergangen 
ist. 
Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen 
bedeckt. Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des 
Lehrers. Auf einem Zaun, dessen Pfähle weiße, runde Kappen trugen, 
saßen drei Spatzen und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden 
an. Aus dem Schulhaus drang ein betäubender Lärm. Unter seiner 
Ladentüre stand der Bäcker und schaute spöttisch lachend hinauf. 
Kunigunde, die Wirtschafterin, begegnete ihm auf der Stiege und 
kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte plötzlich freundlich, als ob er 
mit jemand eine liebenswürdige Unterhaltung führte, doch schien es 
ihm unzuvorkommend und bedrückend, daß dieser Jemand bildlos im 
Raum verblieb. 
Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul 
ertönte, und Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern 
Bestimmung geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine 
Generalstabskarte verwandelt, war mit Hieroglyphen bedeckt. Die 
Reiterei hatte sich des ganzen Globus bemächtigt, und ein dämonisch 
kleiner Knabe saß auf dem Nordpol und fuchtelte mit beiden Armen. 
Einige Amazonen hatten die Gegend des Katheders besetzt und sangen 
Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der Schwelle stehen, schöpfte 
Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in den Raum. 
Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und schuldbewußt 
an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf ihre Plätze. 
Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine vom Nordpol 
hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse zerrissen 
und saß leichenblaß da. Indes begann der Lehrer zu diktieren: Der 
Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Häßlichkeit des 
Geizes eine große Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war groß. 
Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das 
aufregende Prozeßverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu 
folgen pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, 
was den Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. 
Die Tür wurde heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat
herein. Er hatte ein dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das 
Pult zu, legte den Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit 
emporgezogenen Brauen: »Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte 
Ihnen damit ein Geschenk machen. Hoffentlich haben Sie nichts 
dagegen einzuwenden.« Er grüßte mit übertriebener Unbefangenheit, 
doch mit schüchternem Blick und ging. 
Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch auf der dritten 
Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und 
konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh 
war verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein 
wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das 
Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener 
Wärme im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag es 
stürmen, ich stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. 
Wie schön, wenn es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den 
bläulichen Schnee, und kein Laut dringt aus der Erde. 
Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und 
bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, 
und der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem 
Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, 
der einen großen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh 
grüßte und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und 
Kameradschaftliches in seinen Gruß zu legen. 
»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen 
ein Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da 
ankündigen!« 
Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte. 
Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und 
rieb die Hände. 
»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den Zettelmann, 
»habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?« 
Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei mir ist die
Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er kurz und majestätisch. 
»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist 
erstaunt. 
Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, sagte er 
mit dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes. 
Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel. 
»Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß das Stück, ein Lebensbild 
in zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten 
neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf 
und entfernte sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich 
zum    
    
		
	
	
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