Der niegeküßte Mund, by Jakob 
Wassermann 
 
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Title: Der niegeküßte Mund Drei Erzählungen 
Author: Jakob Wassermann 
Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143] 
Language: German 
Character set encoding: ISO-8859-1 
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NIEGEKÜßTE MUND *** 
 
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Der niegeküßte Mund 
Drei Erzählungen von Jakob Wassermann
S. Fischer, Verlag, Berlin 
Alle Rechte vorbehalten. 
 
Inhalt 
Der niegeküßte Mund ...... 7 Treunitz und Aurora ...... 81 
Hilperich ................ 127 
 
Der niegeküßte Mund 
Erstes Kapitel 
Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit 
seinem dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt 
eine breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich 
wie Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den 
gebrechlichen Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die 
Wirtschaft zum lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor 
Maspero. Die Straße setzt sich verengert bis zum Marktplatz fort, 
welcher den Eindruck eines städtischen Mittelpunkts macht. Viele 
ruhige Gassen und Gäßchen zweigen von da ab: zum Schießanger, zur 
Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz schmaler Gang zwischen der 
Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen Synagoge, einem lustigen 
Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei dickbäuchigen Kuppeln. 
Ringsherum zieht sich ein weitläufiger Obstgarten, der den 
Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. Aber diese Straße hat nur 
noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen uraltem 
Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder baufällig: das 
Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen, werden 
hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des Alphabets 
und der Arithmetik eingeführt. 
Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem
Wesen geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum 
Obstgarten. Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, 
war der Name jenes Lehrers. Er selbst und der Kreis seines Daseins 
waren voller Ruhe. Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der 
Ereignisse. Die Leute von Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte 
bei Tage und schliefen in der Nacht und von eisernen Gesetzen wurden 
die Stunden geregelt. Uhren und Kalender hatten nur einen äußerlichen 
Wert. Die Glocke schlug, aber was sie schlug, brauchte an keines 
Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie sie seit Ewigkeiten gegangen 
war, aber wohin sie ging, gab keinem Verstand ein Rätsel. Nur die 
Eisenbahnzüge, die das friedliche Altmühltal hinab- und hinaufrollten, 
brachten einen Duft von Welt mit, von Geschehnissen, vom Wandel 
der Dinge, von den traurigen und heiteren Spielen, die in den Ländern 
vor sich gehen, welche eingespannt liegen zwischen den Ozeanen. 
Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein 
Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich 
schreitenden Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder 
rühmenswert, noch gab er zu tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte 
das Jahrwerk ab ohne sein Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen 
vorbei, ähnlich wie bei geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne 
Licht vollbringen könnten, was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. 
Der Tag zerfiel in Stunden; einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und 
jedes Fach war ein Häuflein Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr 
oder minder williger Gehirne gestopft zu werden. Diese kleine 
Maschinensammlung um Philipp Unruh war seine Schule, in welcher er 
gleichmütig herumschritt und hantierte und mit Wohlwollen und kühler 
Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der Dinge anwohnte. 
Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, 
weder lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr 
als diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines 
Wesens überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste 
Sommertag die Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer 
und Galerien ihr den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von 
Folianten: Chronika und Memoria und ernsthafte Darstellungen, die 
Geschichte aller Zeiten und Völker enthaltend. Darin las und grübelte,
studierte und spekulierte Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich 
gelehrter Eifer im Spiel, -- etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch 
dabei. Und wohl noch eines. Während um ihn die Zeit starr lag gleich 
einem gefrorenen See, erblickte er durch seine Bücher ein aufgewühltes 
Meer von Leben. Für ihn war die Gegenwart nur der Schatten, das 
lautlose Widerspiel der bunten, glänzenden, gefährlichen und 
anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das zufriedene Städtchen, das 
stille fränkische Land, das war die Gegenwart. Die Vergangenheit war 
Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische Schlachten, strahlende 
Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der Doktor, der Apotheker, 
der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine Gesellschaft von 
Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, blutgierigen 
Empörern, ruhmvollen Märtyrern    
    
		
	
	
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