meist ein finsteres und brutales Gegenspiel.«
Zum Beweis erzählte er folgende Geschichte.
»Vor zwei Jahren war ich auf einem mährischen Gut zu Gast. Man
kannte mich in der nahgelegenen Stadt, und weil der ansässige Arzt
über Land gefahren war, wurde ich eines Abends, ziemlich spät, in das
Wirtshaus gerufen, wo ein junger Mann lag, der sich durch einen
Pistolenschuß in die Lunge tödlich verletzt hatte. Der Fall war
hoffnungslos, Linderung der Schmerzen war alles, was zu tun übrig
blieb. Am folgenden Morgen saß ich lange an seinem Bett, er hatte
Vertrauen zu mir gefaßt und enthüllte mir, was ihn zu der Tat getrieben.
Er war Student, fünfundzwanzig Jahre alt, Sohn vermögender Eltern.
Bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr hatte er, ich gebrauche seine
eigenen Worte, gelebt wie ein Tier; leichtsinnig, verschwenderisch und
in gewissenloser Verprassung von Zeit und Kräften. Sein Gemüt,
ursprünglich zarter Regungen durchaus fähig, war verhärtet und
abgerieben durch den beständigen Umgang mit Dirnen. Die
Atmosphäre gemeiner Kneipen war ihm Bedürfnis und die
Zudringlichkeit käuflicher Weiber Gewohnheit geworden. Er wußte
kaum, wie anständige Frauen sprechen, und in unreifer Überhebung sah
er in diesem Treiben die Krone der Freiheit. Da geschah es, daß er auf
einer Ferienreise in ein vielbesuchtes Hotel kam und auf dem
Schreibtisch seines Zimmers einen Brief fand, der unter Löschblättern
lag, unvollendet und sicher dort vergessen worden war. Er gab mir den
Brief zu lesen, den er wie einen Talisman von der Stunde ab immer bei
sich getragen, der sein Leben verändert und zuletzt noch seinen Tod
verschuldet hatte. Wie der Inhalt zu schließen erlaubte, war das
Schreiben von einem jungen Mädchen und an einen Freund gerichtet.
Man kann sich etwas Ergreifenderes nicht denken. Furcht vor Armut
und Schande, vor völliger Verlassenheit, Beteuerung vergeblicher
Anstrengungen, Züge menschlicher Habsucht, Härte und Niedertracht,
entdeckt von einem Wesen, das gläubig war und das noch immer,
obwohl mit schwindendem Gefühl, auf eine wohlmeinende Vorsehung
baute, das war der Text in dürren Worten, die nichts von der tiefen und
natürlichen Beredsamkeit eines verzweifelnden Herzens ahnen lassen.
Die Frage nach der Unbekannten war umsonst, sie war nicht einmal
gemeldet worden, die Bediensteten des Hauses konnten ihm keinerlei
Auskunft geben und wiesen auf den großen Verkehr nächtigender
Gäste hin. Anhaltspunkte über Namen und Wohnort enthielt der Brief
nicht, und dem jungen Mann war zumut, als hätte er eine Stimme von
einem unerreichbaren Stern vernommen. Es ergriff ihn eine brennende
Unruhe, und durch Sehnsucht wurde er geradezu entnervt. Daß der
Brief zu ihm gelangt war, erschien ihm als Fügung und Aufforderung
zugleich; daß es eine Frau in der Welt gab, die so beschaffen war, so zu
empfinden, so zu leiden vermochte, war ihm neu und erschütterte die
Fundamente seines Lebens. Er studierte den Brief wie ein Egyptolog
einen Papyrus, suchte Hindeutungen auf einen bestimmten Dialekt, auf
eine bestimmte Sphäre der Existenz. Jede Silbe, jeder Federzug wurde
ihm allmählich so vertraut, daß sich ein Charakterbild der Schreiberin
immer fester gestaltete, daß er ein Antlitz sah, die Geberde, das Auge,
daß er die Stimme zu hören glaubte, eine Stimme, die ihn ohne
Unterlaß rief. Er reiste von einer Stadt in die andere, wanderte tagelang
durch Straßen, um Gesichter von Frauen und Mädchen zu finden, die
dem erträumten Gesicht der Unbekannten ähnlich sein konnten, ging zu
Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, veröffentlichte Inserate in den
Zeitungen und entfremdete sich seinen Freunden, seinen Eltern, seiner
Heimat, seinem Beruf. In fatalistischem Wahn sagte er sich: unter den
Millionen, die diesen Teil der Erde bevölkern, lebt sie; es ist meine
Bestimmung, sie zu treffen; warum sollte ich nicht, wenn ich alle
meine Sinne in der Begierde sammle? Unter den Tausenden, an denen
ich täglich vorübergehe, weiß vielleicht einer von ihr; mein Wille muß
so stark, mein Gefühl so elementar, mein Instinkt so untrüglich werden,
daß ich den einen spüre und mir durch die Millionen einen Weg zu ihr
bahne; mißlingt es, so bin ich ein Zwitterding und nicht wert, geboren
zu sein. Im Verlauf der Jahre wurde er schwermütig, auch ermattete
wohl das Ungestüm seines Verlangens; es läßt sich ja denken, daß sich
die Natur einer so beständigen Anspannung der Seelenkräfte widersetzt.
Nur sein Wandertrieb wurde nicht geringer, und so kam er denn auf
einer Fahrt vom Norden her in jenen mährischen Ort, wo er den Zug
verließ, weil ihm plötzlich vor der abendlichen Ankunft in der großen
Stadt, vielem Licht, vielem Lärm und vielen Menschen graute.
Während er traurig und müde durch die dunklen Gassen schlich,
gewahrte er am Fenster eines ziemlich abgelegenen Hauses ein altes
Weib, das den Sims belagert hielt und ihn einzutreten bat. Er folgte
willenlos und ohne Bedacht, als sei er an dem Punkt seines
Lebenskreises angelangt, von dem er einst ausgegangen. In der Stube
sah er sich einigen Mädchen gegenüber, denen er ohne Anteil beim
Wein Gesellschaft leistete, und unter denen eine durch stumme
Lockung ihn seiner Apathie

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