Kühle, reichlicher 
als das erstemal getafelt worden: Räucherschinken, Käse und 
Weizenbrot, Feigen, frische Mispeln und Wein. Vielerlei war, nicht 
übermütig, aber mit stiller Heiterkeit geplaudert worden. Endlich wurde 
der Steintisch abgeräumt. Nun aber kam ein Augenblick, der dem 
Herausgeber wie etwas eben Geschehenes gegenwärtig ist. 
Der bronzefarbene Hirt machte, wie man weiß, mit seinem 
ungepflegten, langen Gelock des Haupt- und Barthaares, sowie durch 
seine Kleidung aus Fell den Eindruck der Verwilderung. Er ist mit 
einem Johannes des Donatello verglichen worden. In der Tat hatten 
auch sein Gesicht und das Antlitz jenes Johannes in der Feinheit der 
Linien viel Ähnlichkeit. Ludovico war eigentlich, näher betrachtet, 
schön, sofern man von dem Entstellenden der Brille absehen konnte. 
Freilich erhielt die ganze Gestalt durch sie wiederum, neben dem leise 
komischen Zug, das rätselhaft Sonderbare und Fesselnde. In dem 
Augenblick, von dem die Rede ist, unterlag der ganze Mensch einer 
Veränderung. Hatte das Bronzeartige seines Körpers sich auch durch 
eine gewisse Unbeweglichkeit seiner Züge ausgedrückt, so wich es 
insofern, als sie beweglich wurden und sich verjüngten. Er lächelte, 
man könnte sagen, in einem Anflug knabenhafter Schamhaftigkeit. 
»Was ich Ihnen jetzt zumute,« sagte er, »habe ich noch keinem anderen 
Menschen vorgeschlagen. Woher ich den Mut plötzlich nehme, weiß 
ich eigentlich selber nicht. Aus alter Gewohnheit vergangener Zeiten 
lese ich gelegentlich noch und hantiere auch wohl noch mit Tinte und 
Feder. So habe ich in müßigen Winterstunden eine simple Geschichte 
niedergeschrieben, die lange vor meiner Zeit, hier in und um Soana, 
sich ereignet haben soll. Sie werden sie äußerst einfach finden, mich
aber zog sie aus allerlei Gründen an, die ich jetzt nicht erörtern will. 
Sagen Sie kurz und offen: wollen Sie mit mir nochmals ins Haus gehen 
und fühlen Sie sich aufgelegt, etwas von Ihrer Zeit an diese Geschichte 
zu verlieren, die auch mich schon ohne Nutzen manche Stunde gekostet 
hat? Ich möchte nicht zu-, ich möchte abraten. Übrigens, wenn Sie 
befehlen, nehme ich jetzt schon die Blätter des Manuskripts und werfe 
sie in den Abgrund hinunter«. 
Selbstverständlich geschah dies nicht. Er nahm den Weinkrug, ging mit 
dem Besucher ins Haus, und beide saßen einander gegenüber. Der 
Berghirt hatte ein in Mönchsschrift und auf starke Blätter geschriebenes 
Manuskript aus feinstem Ziegenleder gewickelt. Wie um sich Mut zu 
machen, trank er dem Besucher, eh er gleichsam vom Ufer abstieß, um 
sich in den Fluß der Erzählung zu stürzen, noch einmal zu und begann 
dann mit weicher Stimme. 
Die Erzählung des Berghirten 
An einem Bergabhang oberhalb des Luganer Sees ist unter vielen 
anderen auch ein kleines Bergnest zu finden, das man auf einer steilen, 
in Serpentinen verlaufenden Bergstraße in etwa einer Stunde, vom 
Seeufer aus gerechnet, erreichen kann. Die Häuser des Ortes, die, wie 
an den meisten italienischen Plätzen der Umgegend, eine einzige, 
ineinandergeschachtelte, graue Ruine aus Stein und Mörtel sind, kehren 
ihre Fronten einem schluchtähnlichen Tale zu, das von den Auen und 
Terrassen des Fleckens und gegenüber von einem mächtigen Abhang 
des überragenden Bergriesen Monte Generoso gebildet wird. 
In dieses Tal, und zwar dort, wo es wirklich als enge Schlucht seinen 
Abschluß nimmt, ergießt sich von einer wohl hundert Meter höher 
gelegenen Talsohle ein Wasserfall, der je nach Tages- und Jahreszeit 
und der gerade herrschenden Strömung der Luft, mehr oder weniger 
stark, mit seinem Rauschen eine immerwährende Musik des Fleckens 
ist. 
In diese Gemeinde war vor langer Zeit ein etwa 
fünfundzwanzigjähriger Priester versetzt worden, der Raffaele 
Francesco hieß. Er war in Ligornetto geboren, also im Tessin, und
konnte sich rühmen, ein Mitglied desselben, dort ansässigen 
Geschlechtes zu sein, das den bedeutendsten Bildhauer des geeinten 
Italiens, hervorgebracht hatte, der ebenfalls in Ligornetto geboren 
wurde und endlich auch dort gestorben ist. 
Der junge Priester hatte seine Jugend bei Verwandten in Mailand und 
seine Studienzeit in verschiedenen Priester-Seminaren der Schweiz und 
Italiens zugebracht. Von seiner Mutter, die aus einem edlen 
Geschlechte war, stammte die ernste Richtung seines Charakters, die 
ihn ohne jedes Schwanken schon zeitig dem religiösen Beruf in die 
Arme trieb. 
Francesco, der eine Brille trug, zeichnete sich vor der Menge seiner 
Mitschüler aus durch exemplarischen Fleiß, Strenge der Lebensführung 
und Frömmigkeit. Selbst seine Mutter mußte ihm schonend nahelegen, 
daß er als künftiger Weltgeistlicher sich ein wenig Lebensfreude wohl 
gönnen möge und nicht eigentlich auf die strengsten Klosterregeln 
verpflichtet sei. Sobald er die Weihen empfangen hatte, war es indessen 
sein einziger Wunsch, eine möglichst entlegene Pfarre zu finden, um 
sich dort als eine Art Eremit, nach Herzenslust, noch mehr, als bisher, 
dem Dienste Gottes, seines Sohnes und dessen geheiligter Mutter zu 
weihen. 
Als er nun nach dem kleinen Soana gekommen war und das mit der 
Kirche verbundene Pfarrhaus bezogen hatte, merkten die 
Bergbewohner bald, daß er von einer ganz anderen Art als sein 
Vorgänger war. Schon äußerlich, denn jener war ein massiver, 
stierhafter Bauer gewesen, der die hübschen Weiber und Mädchen des 
Orts mit Hilfe ganz anderer Mittel in seinem Gehorsam    
    
		
	
	
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