er eine gewisse Zeit abgewartet hatte, nahm er 
jedes der Neugeborenen unter einen Arm und trat langsam, von der ihr 
schweres Euter fast schleifenden Mutter gefolgt, den Weg zu seiner 
Behausung an. Der Besucher wurde nicht nur mit dem freundlichsten 
Dank bedacht, sondern auf eine unwiderstehliche Art zum Mitgehen 
eingeladen. 
Der Sonderling hatte mehrere Baulichkeiten auf der Alpe, die ihm 
gehörte, errichtet. Eine davon glich äußerlich einem rohen Steinhaufen. 
Innen enthielt sie trockne und warme Stallungen. Dort wurden Ziege 
und Zicklein untergebracht, während der Besucher zu einem weiter 
oben gelegenen, weiß getünchten Würfel geleitet wurde, der, an die 
Wand des Generoso gelehnt, auf einer mit Wein überzogenen Terrasse 
lag. Unweit des Pförtchens schoß aus dem Berge ein armdicker 
Wasserstrahl, der eine gewaltige Steinwanne füllte, die man aus dem 
Felsen gemeißelt hatte. Neben dieser Wanne wurde durch eine 
eisenbeschlagene Tür eine Berghöhle, wie sich bald erwies, ein 
Kellergewölbe, abgeschlossen.
* * * * * 
Man hatte von diesem Platz, der, vom Tale aus gesehen, in scheinbar 
unzugänglicher Höhe hing, einen herrlichen Blick, von dem der 
Verfasser indes nicht reden will. Damals freilich, als er ihn zuerst 
genoß, fiel er von einem sprachlosen Staunen in laute Ausrufe des 
Entzückens und wieder in sprachloses Staunen zurück. Sein Wirt aber, 
der eben in diesem Augenblick aus der Behausung, wo er etwas 
gesucht hatte, wieder ins Freie trat, schien nun auf einmal mit leiseren 
Sohlen zu gehen. Solches Verhalten, sowie überhaupt das ganze stille, 
gelassene Betragen seines Gastfreundes ließ der Besucher sich nicht 
entgehen. Es ward ihm zur Mahnung, mit Worten karg, mit Fragen 
geizig zu sein. Er liebte den wunderlichen Sennen bereits zu sehr, um 
Gefahr zu laufen, sich ihn durch einen bloßen Schein von Neugier oder 
Zudringlichkeit zu entfremden. 
Noch sieht der Besucher von damals den runden Steintisch, der, von 
Bänken umgeben, auf der Terrasse stand. Er sieht ihn mit allen guten 
Dingen, die der »Ketzer von Soana« darauf ausbreitete: dem 
herrlichsten Stracchino di Lecco, köstlichem italienischen Weizenbrot, 
Salami, Oliven, Feigen und Mispeln, dazu einem Krug voll roten 
Weins, den er frisch aus der Grotte geholt hatte. Als man sich setzte, 
sah der ziegenfellbekleidete, langgelockte, bärtige Wirt dem Besucher 
herzlich in die Augen, dabei hatte er seine Rechte gefaßt, als wollte er 
ihm eine Zuneigung andeuten. 
Wer weiss, was alles bei dieser ersten Bewirtung gesprochen wurde. 
Nur einiges blieb erinnerlich. Der Berghirt wünschte Ludovico genannt 
zu sein. Er erzählte manches von Argentinien. Einmal, als das 
Gebimmel der Angelusglocken aus den Tiefen drang, machte er eine 
Bemerkung über dieses »allfällig aufreizende Getön«. Einmal fiel der 
Name Seneca. Es wurde auch etwas obenhin von Schweizer Politik 
gesprochen. Endlich wünschte der Sonderling manches von 
Deutschland zu wissen, weil es des Besuchenden Heimat war. Er sagte, 
als für diesen, nach vorgefaßtem Beschluß, die Zeit des Abschieds kam: 
»Sie werden mir immer willkommen sein.« 
* * * * *
Obgleich, wie er nicht verbergen will, der Herausgeber dieser Blätter 
nach der Geschichte dieses Menschen lüstern war, vermied er es auch 
bei neuen Besuchen, irgendein Interesse dafür zu verraten. Man hatte 
ihm einige äußere Tatsachen mitgeteilt, bei gelegentlichen Gesprächen, 
die er in Soana geführt hatte, Tatsachen, die daran schuld sein sollten, 
daß Ludovico zum »Ketzer von Soana« ernannt wurde: ihm dagegen 
lag weit mehr daran, herauszubringen, in welchem Sinne man mit 
dieser Bezeichnung recht hatte und in welchen eigentümlichen inneren 
Schicksalen, welcher besonderen Philosophie die Lebensform 
Ludovicos wurzele. Er hielt jedoch mit Fragen zurück und ist dafür 
auch reichlich belohnt worden. 
Er traf Ludovico meistens allein, entweder unter den Tieren der Herde 
oder in seiner Klause. Einige Male fand er ihn, als er, wie Robinson, 
eigenhändig die Ziegen molk. Oder er legte einer widerspenstigen 
Mutter die Zicklein an. Dann schien er ganz im Berufe eines Sennhirten 
aufzugehen: er freute sich der Ziege, die das strotzende Euter am 
Boden schleppte, des Bockes, wenn er hitzig und fleißig war. Von 
einem sagte er: »Sieht er nicht wie der Böse selber aus? Sehen Sie doch 
seine Augen. Welche Kraft, welches Funkeln in Zorn, Wut, 
Boshaftigkeit. Und dabei welches heilige Feuer.« Dem Autor aber kam 
es vor, als ob in den Augen des Sprechers dieselbe Höllenflamme 
vorhanden wäre, die er ein »heiliges Feuer« genannt hatte. Sein 
Lächeln bekam einen starren und grimmigen Zug, er zeigte die weißen, 
prächtigen Zähne und geriet dabei in einen Zustand von Versonnenheit, 
wenn er einen seiner dämonischen Matadore mit dem Blicke des 
Fachmanns bei seiner nützlichen Arbeit beobachtete. 
Manchmal spielte der »Ketzer« die Panflöte, und der Besucher 
vernahm ihre einfachen Tonreihen schon bei der Annäherung. Bei einer 
solchen Gelegenheit kam natürlich das Gespräch auf Musik, und der 
Hirt entwickelte seltsame Ansichten. Niemals, wenn er inmitten der 
Herde war, sprach Ludovico von etwas anderem, als von den Tieren 
und ihren Gewohnheiten, vom Hirtenberuf und seinen Gepflogenheiten. 
Nicht selten ging er der Psychologie der Tiere, der Lebensweise der 
Hirten nach bis in    
    
		
	
	
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