Stehenbleiben doch nur ein unvermerktes Weiterrücken ist, erscheint 
auch diesem status quo ein Hoffnungsstrahl. Die ersten Bäume des 
Augartens und der Brigittenau werden sichtbar. Land! Land! Land! 
Alle Leiden sind vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus 
und mischen sich unter die Fußgänger, Töne entfernter Tanzmusik 
schallen herüber, vom Jubel der neu Ankommenden beantwortet. Und 
so fort und immer weiter, bis endlich der breite Hafen der Lust sich 
auftut und Wald und Wiese, Musik und Tanz, Wein und Schmaus, 
Schattenspiel und Seiltänzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu einem 
pays de cocagne, einem Eldorado, einem eigentlichen Schlaraffenlande 
vereinigen, das leider, oder glücklicherweise, wie man es nimmt, nur 
einen und den nächst darauffolgenden Tag dauert, dann aber 
verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der 
Erinnerung zurückbleibt und allenfalls in der Hoffnung. 
Ich versäume nicht leicht, diesem Feste beizuwohnen. Als ein 
leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen, vorzüglich des Volkes, so 
daß mir selbst als dramatischem Dichter der rückhaltslose Ausbruch 
eines überfüllten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja 
belehrender war als das zusammengeklügelte Urteil eines an Leib und 
Seele verkrüppelten, von dem Blut ausgezogener Autoren spinnenartig 
aufgeschwollenen literarischen Matadors; als ein Liebhaber der 
Menschen, sage ich, besonders wenn sie in Massen für einige Zeit der 
einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen fühlen, in 
dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt--als einem solchen ist mir 
jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine 
Andacht. Wie aus einem aufgerollten, ungeheuren, dem Rahmen des 
Buches entsprungenen Plutarch lese ich aus den heitern und heimlich 
bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange, dem 
wechselseitigen Benehmen der Familienglieder, den einzelnen halb 
unwillkürlichen Äußerungen mir die Biographien der unberühmten 
Menschen zusammen, und wahrlich! man kann die Berühmten nicht 
verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat. Von dem 
Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, 
aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in
der jungen Magd, die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber 
seitab vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, 
die Didos und die Medeen. 
Auch vor zwei Jahren hatte ich mich, wie gewöhnlich, den lustgierigen 
Kirchweihgästen als Fußgänger mit angeschlossen. Schon waren die 
Hauptschwierigkeiten der Wanderung überwunden und ich befand 
mich bereits am Ende des Augartens, die ersehnte Brigittenau hart vor 
mir liegend. Hier ist nun noch ein, wenngleich der letzte Kampf zu 
bestehen. Ein schmaler Damm, zwischen undurchdringlichen 
Befriedungen hindurchlaufend, bildet die einzige Verbindung der 
beiden Lustorte, deren gemeinschaftliche Grenze ein in der Mitte 
befindliches hölzernes Gittertor bezeichnet. An gewöhnlichen Tagen 
und für gewöhnliche Spaziergänger bietet dieser Verbindungsweg 
überflüssigen Raum; am Kirchweihfeste aber würde seine Breite, auch 
vierfach genommen, noch immer zu schmal sein für die endlose Menge, 
die, heftig nachdrängend und von Rückkehrenden im 
entgegengesetzten Sinne durchkreuzt, nur durch die allseitige 
Gutmütigkeit der Lustwandelnden sich am Ende doch leidlich 
zurechtfindet. 
Ich hatte mich dem Zug der Menge hingegeben und befand mich in der 
Mitte des Dammes, bereits auf klassischem Boden, nur leider zu stets 
erneutem Stillestehen, Ausbeugen und Abwarten genötigt. Da war denn 
Zeit genug, das seitwärts am Wege Befindliche zu betrachten. Damit es 
nämlich der genußlechzenden Menge nicht an einem Vorschmack der 
zu erwartenden Seligkeit mangle, hatten sich links am Abhang der 
erhöhten Dammstraße einzelne Musiker aufgestellt, die, wahrscheinlich 
die große Konkurrenz scheuend, hier an den Propyläen die Erstlinge 
der noch unabgenützten Freigebigkeit einernten wollten. Eine 
Harfenspielerin mit widerlich starrenden Augen. Ein alter invalider 
Stelzfuß, der auf einem entsetzlichen, offenbar von ihm selbst 
verfertigten Instrumente, halb Hackbrett und halb Drehorgel, die 
Schmerzen seiner Verwundung dem allgemeinen Mitleid auf eine 
analoge Weise empfindbar machen wollte. Ein lahmer, verwachsener 
Knabe, er und seine Violine einen einzigen ununterscheidbaren Knäuel 
bildend, der endlos fortrollende Walzer mit all der hektischen 
Heftigkeit seiner verbildeten Brust herabspielte. Endlich--und er zog 
meine ganze Aufmerksamkeit auf sich--ein alter, leicht siebzigjähriger
Mann in einem fadenscheinigen, aber nicht unreinlichen 
Molltonüberrock mit lächelnder, sich selbst Beifall gebender Miene. 
Barhäuptig und kahlköpfig stand er da, nach Art dieser Leute, den Hut 
als Sammelbüchse vor sich auf dem Boden, und so bearbeitete er eine 
alte vielzersprungene Violine, wobei er den Takt nicht nur durch 
Aufheben und Niedersetzen des Fußes, sondern zugleich durch 
übereinstimmende Bewegung des ganzen gebückten Körpers markierte. 
Aber all diese Bemühung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war 
fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge 
von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie. Dabei war er ganz in sein Werk 
vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm 
befindliche Notenblatt gerichtet ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes 
alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden Musiker sich auf ihr 
Gedächtnis verließen, hatte der alte Mann mitten in dem Gewühle ein 
kleines, leicht tragbares Pult vor sich hingestellt mit schmutzigen, 
zergriffenen Noten, die das in schönster Ordnung enthalten mochten, 
was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab. Gerade das 
Ungewöhnliche dieser Ausrüstung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn 
gezogen,    
    
		
	
	
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