man nicht mehr genau wahrnehmen, daß sich unter 
der Oberfläche äußerer Anpassung in der Jugend Zeichen für 
eine eigentümliche Apathie und für eine innerliche Absonde- 
rungstendenz mehrten: »Solange ihr uns in unserer Welt nicht 
stört, mögt ihr euch in irgendwelchen absonderlichen Lebens- 
formen und >Jugendkulturen< ergehen, bis ihr einsehen wer- 
det, daß ihr mitfunktionieren müßt, um in unserer unerbittlich 
durchorganisierten Gesellschaft nicht unterzugehen!« Diese 
eher resignativ defensive Haltung der Masse der integrierten 
Älteren verkannte die demonstrierte Gleichgültigkeit und 
Distanzierung vieler Kinder und Jugendlicher als ursprüngli- 
ches In-Ruhe-gelassen- und Für-sich-sein-Wollen. Aber das 
war seitens der Älteren nur eine erwünschte projektive 
Selbsttäuschung. In Wirklichkeit haben sich Christiane wie 
Hunderttausende anderer Kinder und Jugendlicher erst se- 
kundär aus Enttäuschung darüber abgewendet, daß die Älte- 
ren ihnen kein intaktes menschliches Zusammenleben mehr 
vormachten, in das sie selbst gern mit Einfühlung, Wärme und 
Verläßlichkeit einbezogen worden wären. Christiane und alle 
von ihr kurzbiographisch skizzierten Freunde in den Cliquen 
der Fixer und Stricher haben Eltern erlebt, die schwere eigene 
Beschädigungen erfahren und - wie unbewußt auch immer - 
ihre Verzweiflung, ihre äußere und innere Isolation, ihre 
Gekränktheits- und Rachegefühle an ihre Kinder weitergege- 
ben haben. 
Oft sind es nun gerade hochsensible, verwundbare und 
zugleich stolze Kinder wie Christiane, die aus den abschrek- 
kenden Defekten der Elterngeneration die Konsequenz zie- 
hen, sich durch Abtauchen gegen die »normalen« Anpas- 
sungszwänge abschirmen und sich vor jener Selbstaufgabe 
bewahren zu wollen, die ihnen die Älteren vorleben. Es ist 
trostlos zu verfolgen, wie diese kleinen, gebrechlichen Wesen 
in ihren Cliquen irgendeine ihren tiefen Bedürfnissen entspre- 
chende Traumwelt im Untergrund verwirklichen wollen - und 
letztlich darin scheitern müssen. Typisch ist, was Christiane 
immer wieder in den Cliquen sucht: etwas von echter Solidari- 
tät in Frieden, frei von jeder Hektik, dabei Anerkennung und
Schutz gegen Unterdrückung. »Ich bin nicht sicher, daß es 
unter jungen Leuten, die nicht drogenabhängig sind, solche 
Freundschaft wie in unserer Clique noch gibt.« Und daß sie 
die Clique zum Schutz gerade vor den gesellschaftlichen 
Institutionen sucht, die eigentlich an den ihr vorschwebenden 
Wunschzielen ausgerichtet sein sollten, drückt sie in ihrer 
verzweifelten Schimpfrede gegen die Schule aus: »Was heißt 
hier Umweltschutz? Das fängt doch erst mal damit an, daß die 
Menschen lernen, miteinander umzugehen. Das sollten wir an 
dieser Scheißschule erst mal lernen. Daß der eine irgendein 
Interesse für den anderen hat. Daß nicht jeder versucht, das 
größere Maul zu haben und stärker zu sein als der andere, und 
daß man sich nur gegenseitig bescheißt und ablinkt, um 
bessere Noten zu bekommen.« 
Wer sich als Leser dieses Buches mit der Annahme be- 
schwichtigen möchte, was hier enthüllt werde, gebe es nur als 
marginale Phänomene in der einen oder anderen Großstadt, 
vielleicht gar nur in dem verruchten Berlin, dem sei gesagt: 
Frühe Heroinabhängigkeit, kindlicher Alkoholismus und die 
Begleiterscheinungen von kindlicher Prostitution und Dro- 
genkriminalität haben weit um sich gegriffen. Aber warum 
weiß man so wenig davon? Christianes Bericht nennt bereits 
einige Gründe: 
Kaum eine der mitwissenden und z. T. offiziell befaßten 
Institutionen wie Schulen, Gesundheits- und Sozialbehörden, 
Polizei, Kliniken tut etwas Gründliches oder schlägt Alarm. 
Das wirkt wie eine heimliche Vereinbarung zur stillschweigen- 
den Hinnähme bzw. zur bloß routinehaften Erledigung. Da 
wird lediglich zugeschaut, registriert, gelegentlich eingesperrt. 
Nach außen dringt nichts von dem Leiden, von der Verzweif- 
lung dieser kindlichen Elendswelt. Eher bemüht man sich, die 
Drogenprobleme als bloßes Produkt krimineller Schmuggler 
und Händler erscheinen zu lassen, die man wie irgendein von 
außen eindringendes Ungeziefer ausräuchern müßte. Gewiß 
würden die zuständigen Institutionen mehr an Prävention und 
Therapie leisten, wenn man sie darin endlich mehr von 
politischer Seite unterstützen würde. Aber dieser politische 
Beistand fehlt weithin. Das politische Handeln wiederum 
steht unter dem Druck einer öffentlichen Meinung, die durch 
eine allgemeine Tendenz zur Verdrängung charakterisiert ist.
Und diese Tendenz wird eifrig von denjenigen politischen 
Kräften geschürt, die grundsätzlich vorurteilshaft soziales 
Scheitern immer nur den Scheiternden selbst oder fremden 
Verführern zur Last legen, um nicht den mindesten Schatten 
auf die bestehende Ordnung fallen zu lassen. 
Man hört es gerade in diesen Wochen wieder, wenn es darum 
geht, den Kindern rechtlich bessere Chancen einzuräumen, 
sich rechtzeitig vor den Beschädigungen in kaputten Eltern- 
häusern zu bewahren - ohne Zweifel eine der Hauptursachen 
des Drogenübels. Was wird da alles an Entrüstung über den 
Angriff auf die »Freiheit der Eltern« geschürt, und wie 
zaghaft klingen demgegenüber die Plädoyers für die Kinder, 
die ihre Schutzinteressen leider nur mangelhaft vertreten 
können. Aber eben auch aus diesem Grunde ist es so wichtig, 
was Kai Hermann und Horst Rieck hier zuwege gebracht 
haben: Nur indem geschädigten Kindern geholfen wird, sich 
selbst zu äußern, können diese stellvertretend für viele andere 
dafür sorgen, daß die Lage der Kinder in unserer Gesellschaft 
allmählich klarer gesehen wird. 
Allerdings geht es eben nicht nur um eine bessere Informa- 
tion, sondern auch um eine mutigere Bereitschaft der Mehr- 
heit, einen Mißstand klarer wahrzunehmen, der zu einer 
Anerkennung wesentlicher eigener    
    
		
	
	
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