des häuslichen Lebens; demgemäß war auch die 
Erziehung ihrer Kinder; sie war vor allem, wofür ich sehr dankbar bin, 
in sittlicher Hinsicht sehr sorgfältig. Mein Vater, in ziemlich freier, 
unabhängiger Lage, indem meine Mutter dem Hause mit seltener 
Einsicht und Würde vorstand, ließ sich in seinen Neigungen gehen, die
ihn vor allem in die Vorzeit und die Studien der Vorzeit zogen. Er lebte 
nur im Klassischen, war nur umgeben mit klassischen Werken. Die 
neue Lektüre zog ihn nicht an, ja ließ ihn unbefriedigt. Damit in 
Übereinstimmung war auch sein Umgang. Aus den nicht immer 
gelehrten, aber immer ernsten Unterhaltungen, die ich still anhörte, 
nahm ich vielleicht früh, und früher als andere, den Grund meiner 
intellektuellen Bildung, und genoß auch früher, als es gewöhnlich ist, 
das Glück, bedeutenden Personen näher zu stehen, mit großer Güte 
behandelt und ihres Anteils gewürdigt zu werden. Auf diese Art wurde 
ich, meinen natürlichen Anlagen gemäß, früh zum Nachdenken geführt, 
und mehr durch Zuhören als durch Unterricht, mehr durch Nachdenken 
als durch Kenntnisse und Talente auf den Weg der Bildung geleitet. 
Die ernste Richtung, die so, schon als Kind möchte ich sagen, meine 
Seele nahm, schützte vor vielen jugendlichen Torheiten und 
Frivolitäten, nährte aber zugleich mehr, als es wenigstens zum Glück 
des Lebens gut ist, den Hang zum Idealen. Dabei bildete sich mehr und 
mehr, denn es war schon sehr früh, ja schon in der Kindheit entstanden, 
ein hohes, beseligendes Bild von Freundschaft in mir aus, das mir das 
größte, einzige Erdenglück erschien. Die erste Erzählung, die mir durch 
öfteres Lesen genau bekannt wurde und mich begeisterte, war die 
allerdings wunderschöne Gesinnung und Handlungsart Jonathans gegen 
den zurückstehenden David. Alle Beispiele aus alter und neuer Zeit 
sammelte ich -- Richardsons Clarisse gab den vollen Ausschlag. Jeder 
Aufopferung fähig, glaubte ich, nur für dies Glück geboren zu sein, und 
verlangte nichts Höheres. In Pyrmont war nun diese Überzeugung bis 
zur Begeisterung gesteigert und wurde bald die tiefe und unendliche 
Quelle vielfacher, leidenvoller Verhängnisse und schmerzlicher 
Verwickelungen. Verzeihen Sie diese Einleitung, die ich nötig glaube, 
um das Folgende richtig zu beurteilen. 
Nun gehe ich über zu der schmerz- und ereignisschweren 
Vergangenheit, und von da zu der drückenden und zerdrückenden 
Gegenwart, die mir eigentlich zu diesem Schritt den Mut gegeben hat. 
Es wird schon leichter werden, da während des Schreibens bis hierher 
nach und nach das seelenvolle Vertrauen zurückgekehrt ist, womit wir 
uns einst in den Pyrmonter Alleen besprachen und verstanden.«
* * * * * 
Darauf folgte eine möglichst kurz zusammengefaßte Übersicht der 
hauptsächlichsten Ereignisse meines Lebens, worunter die am meisten 
herausgehoben und beglaubigt wurden, die mich zum Schreiben 
ermutigt hatten: meine großen Verluste an den Staat. Daran knüpften 
sich Pläne für mein Fortkommen, denen aber überall meine zerstörte 
Gesundheit, ein Mangel und Erschöpftsein aller Lebenskräfte 
entgegentraten. Das alles gehört nicht hierher und ist nicht erforderlich 
als Kommentar oder Einleitung zu den nun folgenden wertvollen 
Briefen, welche dadurch entstanden. Der Schluß war dann ungefähr so: 
»Jetzt haben Sie die Umrisse meines Lebens in dem langen Zeitraum 
übersehen, geben Sie der treuen, immer schweigenden Teilnahme 
etwas zurück! Sie kennen das Herz der Frauen und wissen besser, als 
ich das sagen kann, wie teuer uns alles ist, was dem einst geliebten 
Manne angehört und ihn beglückt. Sagen Sie mir etwas von den teuern 
Ihrigen, geben Sie mir etwas ab von Ihrem Glück! 
Jetzt schließe ich die vielen Blätter ohne Furcht. Ich lege meine 
Angelegenheiten an Ihr Herz, da sind sie gut aufgehoben, und es 
geschieht, was geschehen kann. Wie sehe ich einer Antwort entgegen, 
die ich gewiß empfange!« 
H., den 18. Oktober 1814. 
 
WILHELM VON HUMBOLDT 
BRIEFE 
 
Wien, 3. November 1814. 
Ich habe heute früh Ihren Brief vom 18. Oktober erhalten, und ich kann 
Ihnen nicht sagen, wie mich Ihr Andenken gerührt und gefreut hat. Ich 
hatte in unserm Zusammentreffen in Pyrmont immer eine wunderbare 
Fügung des Schicksals erkannt, denn Sie irren sehr, wenn Sie glauben,
daß Sie in einer flüchtigen Jugenderscheinung an mir vorüber gegangen 
sind. Ich dachte sehr oft an Sie, erkundigte mich auch, aber immer 
fruchtlos, nach Ihnen, glaubte Sie verheiratet, dachte Sie mir mit 
Kindern und in einem Kreise, wo Sie mich längst vergessen hätten, und 
bewahrte nur in mir, was mir jene Jugendtage gelassen hatten. Jetzt 
erfuhr ich, daß Ihr Leben viel weniger einfach gewesen ist, als ich es 
mir dachte. Hätten Sie mir damals geschrieben, wie Sie am meisten 
litten, vielleicht hätten Ihnen meine Worte wohltun können. Glauben 
Sie mir, liebe Charlotte, Sie werden mir diese vertrauliche Benennung 
nicht übel deuten, da ja nur Sie und ich unsere Briefe lesen, der 
Mensch traut nie dem Menschen genug. So erfahre ich erst jetzt durch 
Sie, daß ich damals einen tieferen Eindruck auf Sie machte, als ich mir 
je eingebildet hätte. Die Zeilen, die man nach so langer Zeit von sich 
selbst wiedersieht, sprechen einen wie aus    
    
		
	
	
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