Schnipsel | Page 2

Cory Doctorow
gab aber Kostbarkeiten
darunter, oh ja.
Sein privater Platz hing verlockend vor ihm, gleich au§erhalb der Kuppel. Der Strom der
Kšrper teilte sich, zu den Docks hin beschleunigte er seinen Schritt, betrat die FŠhre mit
einem Nicken zum Lenker in seiner Kabine und drŠngte in einen der wenigen Sitze am
Bug. WŠhrend die FŠhre in Richtung Luftschleuse bei Toronto Island ablegte, zog er
seine Kutte Ÿber.
Es war noch kŠlter als letztes Mal. Der Anzeiger auf seinem †berwurf zeigte Ð48¡C mit
Windfrost. Seine Nase und seine Zehen wurden schlagartig taub und er steckte sie unter
die wŠrmende Bekleidung.
Sein ungestšrter Platz lag nur einen Sprung weit vom westlichsten Strand bei Hanslons
Point auf Toronto Island, eine vergessene Smart-Boje, borstig von selbstreparierender
Elektronik umwuchert, wie ein fraktales Stachelschwein. Sein letzter Ausflug hierher lag
schon ein paar Wochen zurŸck und in der Zwischenzeit hatte die Boje weitere
Instrumente angesetzt, die den schmalen Eingang in ihre Konsolenkapsel versperrten.
Leise fluchend wickelte Adrian die Kutte um seine HŠnde, brach die Antennen ab und
warf sie in den bšig aufschŠumenden Ontario-See. Dann kletterte er hinein und hielt den
Atem an.
Wellen brachen sich krachend am Hanslons Point. Das ferne Summen der Luftschleuse.
Ein Flugzeug brummte hoch Ÿber seinen Kopf hinweg. Stille, auf eine Art. Ein
halbgegessenes Sandwich verschimmelte in der NŠhe seines rechten Fu§es. Angewidert
befšrderte er es nach drau§en, im Stillen verfluchte er die Instandhaltungscrews, die sich
regelmŠ§ig auf den Weg zu seiner Boje machten, um den ihnen unerklŠrlichen Schaden
auszutŸfteln, den er an ihr angerichtet hatte.
Aber die Stille, ah. Seine Mutter verstand sein Verlangen nach Stille Ÿberhaupt nicht. Sie
verspŸrte Behaglichkeit angesichts des furzenden, atmenden, sich dahinschiebenden
Schwarms von Menschheit, der sie zu jeder Zeit umklammerte. Sie hatte einige
Jahrzehnte damit verbracht, Zinn-armiert und mit Eisenlunge in der immensen Leere des
Raumes lustzuwandeln. Sie hatte ihre Portion Ruhe gehabt, wirklich zur GenŸge. Adrian
hingegen, mit 18 (oder 17) Jahren in den wimmelnden Horden der Bitchun-Gesellschaft,
konnte nicht genug davon bekommen.
Sein šffentliches Verzeichnis platzte vor Backups der letzten Ladung, die seine
Altersgenossen rund um den Globus ihm zugespielt hatten, hšchst illegal. Die Backups
waren veraltete Bewusstseinsinhalte, kreiert von den unterschiedlichsten Mitgliedern der

Bitchun-Gesellschaft. Es handelte sich um eine wšchentliche Absicherung gegen
physischen Schaden.
Theoretisch wurde, wenn jemand ein neues Backup erstellte, das alte gelšscht und die
Datei an einen nicht­existenten Knoten im verteilten Netzwerk verschoben, welches
aus der gemeinsamen Rechenkraft der implantierten Computer gebildet wurde, die von
jedem Mitglied der Bitchun-Gesellschaft getragen wurden. Theoretisch.
Adrian blŠtterte durch das Verzeichnis. Eines dieser Bootlegs in ein Backup-Terminal
mitzunehmen, wŸrde sofortige Entdeckung bedeuten. Selbst es jemandem anderen zu
senden, war riskant und barg die Gefahr, aufgespŸrt zu werden. Mohan hatte ein
schnuckeliges kleines Tool geschrieben, das die †bertragung Ÿber den Handshake- und
Routing-Kanal ermšglichte, einem Kurzwellenband, das unverlŠssliche Ð und daher
nicht zu ortende Ð Informationen Ÿbertrug, die in den Haupt-DatenkanŠlen mitgehšrt
worden wŠren. Die Million hatte das Tool rasch angenommen und sie benutzten es, um
einander ihre Konterbande zu Ÿberspielen. Auf diese Weise kopierten sie die Bootlegs,
bevor sie diese vor ihrem eigenen wšchentlichen Backup lšschten.
Adrian stand bei der Million in gutem Whuffie. Nichts im Vergleich mit Mohan, freilich,
aber noch immer gut Ð er speicherte verlŠsslich Bootlegs fŸr die Million, sogar wenn
das hie§, sein eigenes Backup zu verschieben, bis er einen sicheren Speicherplatz fŸr all
die ihm anvertrauten Materialien finden konnte. Es machte ihm nichts aus: Ein
Spitzen-Whuffie Verwahrungsort zu sein, bedeutete, dass er jedermanns wertvollste
Raubkopien zur Aufbewahrung bekam.
Wie dieses, das Backup eines Bitchun der dritten Generation, am Ende des XXI.
Jahrhunderts geboren, weiblich (obwohl das nicht lang so blieb). Siebzig Jahre spŠter war
ihr/sein Backup ein prŠchtiger Wandteppich aus Erinnerungen. SpektakulŠre
WeltraumkŠmpfe, unglaubliche sexuelle Abenteuer, zwerchfellerschŸtternde Witze,
exotische Geschmacksrichtungen und esoterisches Wissen, aufgesogen von brillanten
Lehrern rund um den ganzen Planeten. Er hatte es jetzt schon zwei Wochen und
blitzbackte es fast jeden Tag.
Zeit, dies wieder zu tun. Rasch gab er den Befehl dazu ein. Ein Zittern durchlief ihn,
wŠhrend dieses Bewusstsein, in eine Kugel aus Erinnerungen und Einsichten gerollt, ihm
direkt in seinen Verstand gefeuert wurde. Es entfaltete sich Ÿber seinen eigenen
Gedanken und TrŠumen, sodass er fŸr einen Moment diese Person war, ihr/sein Selbst
umhŸllte Adrian mit einem endlosen Bombardement von SinneseindrŸcken.
Es ebbte ab, der Adrenalinsto§ verschwand in einem synaptischen Knistern, lie§ ihn
zitternd und ausgelaugt zurŸck. Er sackte gegen das spitze Interieur der Boje, wŠhrend er
ein HUD einblendete und einen Agenten auf die Suche nach einem anderen Mitglied der
Million schickte, das Speicherplatz fŸr eine Kopie Ÿbrig hatte.
Backup-Tage waren Blitzback-Tage. In der Boje blitzbackte Adrian dutzende Male. Er
wechselte zwischen seinen durch die Zeit abgenutzten Lieblingen und den
schmackhaftesten Happen, die die Million deponiert hatte. Er fra§ sich voll mit den

antiken Bewusstseinsinhalten der Unsterblichen der Bitchun-Gesellschaft, bis zur
†bersŠttigung und zum Platzen
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