Schnipsel

Cory Doctorow
Schnipsel
by Cory Doctorow
Engl. Originaltitel: TRUNCAT
© 2000, Cory Doctorow
First published in BAKKAnthology, 2002
Website: http://craphound.com/000121.html
†bersetzung © 2005, Magnus Wurzer
Some Rights Reserved
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http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.5/) and a Creative Commons Developing
Nations license (see http://creativecommons.org/licenses/devnations/2.0/).
ãAdrian, du hast eine Million FreundeÒ, sagte seine Mutter. ãDas ist statistisch bewiesen.
Es tut mir leid, wenn du dich isoliert fŸhlst, aber keiner von uns zieht nach Bangalore,
nur damit du dich mit diesem Burschen anfreunden kannst.Ò
Adrian kŠmpfte mit seiner Beherrschung. Seine Mutter war vor dem FrŸhstŸck immer
reizbar, und ein ausgewachsener Streit konnte diese Stimmung auf den ganzen Tag
ausdehnen. Das brauchte niemand. ãMamÒ, er wand seinen Kšrper durch den schmalen
Dreipersonensarg, den er mit seinen Eltern teilte, um ihr in die Augen schauen zu kšnnen,
ãich verlange nicht von euch, nach Indien zu ziehen. Ich erklŠre meine Arbeit, das ist
alles.Ò
Seine Mutter schnaubte. ãDie Letzte Generation auf Erden, wirklich! Adrian, wenn ich
dein Ausbilder wŠre, ich wŸrde dich garantiert nicht auf der Basis von so etwas
promovieren lassen. Es ist mir všllig egal, ob dieser Junge in Indien die ITT-Leute von
der Stichhaltigkeit seiner kleinen trendigen These Ÿberzeugt hat. Die UniversitŠt Toronto
stellt hšhere AnsprŸche.Ò
Es war ein Fehler gewesen, Ÿberhaupt mit seiner Mutter darŸber zu sprechen. Mit 180
war sie kaum in der Lage, den Druck zu verstehen, dem er und seine unbedeutend
winzige Generation ausgesetzt waren. Er sollte die Arbeit einfach geschrieben und
seinem Lehrer ins šffentliche Verzeichnis gestellt haben. Es war nur, dass er in der Nacht
die coolste Idee Ÿberhaupt gehabt und sie seiner Mutter reflexartig zugespielt hatte: Mit
Erlangung der Reife seiner Generation wŠre der ganze Planet post-human und eine neue,
absolut neue €ra wŸrde beginnen. Die Bitchun-Gesellschaft, Phase II.

ãOkay, Mam. Okay. Ich gehe frŸhstŸcken Ð willst du mitkommen?Ò
ãNeinÒ, sagte sie und rollte sich wieder auf die Seite. ãIch warte auf deinen Vater.Ò
Er blickte auf das schnarchende Massiv seines Vaters, der trotz des hitzigen
Wortwechsels noch immer weggetreten, hinter ihr schnarchte. Adrian griff nach dem
DeckengelŠnder und hievte sich zentimeterweise aus dem Sarg in den šffentlichen
Korridor.
Sein Bauch knurrte, aber die Schlange, die auf die Ausspeisung wartete, war immer noch
lang, dicht besetzt mit FrŸhstŸckenden aus dem Bau, den er sein Zuhause nannte.
Widerstrebend entschloss er sich, das FrŸhstŸck zu Ÿberspringen und sein Refugium
aufzusuchen. Es war beinahe Backup-Zeit und er musste einiges abladen.
Um bei der Wahrheit zu bleiben, Adrians privater Punkt war alles andere als privat und
zudem verdammt schwierig zu erreichen. Seine Netzkumpel verglichen gerne
Aufzeichnungen Ÿber ihre Verstecke und Adrian war sich sicher, dass er das
beschissenste und unpraktischste Loch von allen hatte.
Zuerst begab sich Adrian in die U-Bahn und entschied sich wegen der schnelleren
Ladezeit fŸr die TiefkŸhl-Freifahrt. Er betrat die glŠnzende Kryokammer der
Downsview Station, beschwor ein HUD (Anm.: Heads Up Display, in diesem Fall
neuronal verdrahtet) in seinem Gesichtsfeld herauf und sendete die Freigabe zum
Einfrieren.
Im nŠchsten Augenblick taute er am Bahnsteig der Union Station auf, eingepfercht
zwischen einigen tausend Pendlern, die sich fŸr die gleiche Vorgangsweise entschieden
hatten. In Indien, wo diese Art des Komfort-Gefrierens noch verbreiteter war, hatte
Mohan erkannt, dass der Grund, warum ihre Generation fŸr ihr Alter so klein war, darin
lag, dass sie viel Zeit im KŠlteschlaf verbrachten und so im Transit-Raum gespart wurde.
Adrian mochte an die 18 sein, davon hatte er jedoch, schŠtzte er, mindestens ein Jahr
eingefroren verbracht.
Adrian schlurfte durch die Menge und den Treppenaufgang zur
Dauer-Temperatur-OberflŠche hinauf, dabei zog er den Routing-Sticker ab, den die
Kryonik ihm auf die Schulter geklebt hatte. Sein Bauch knurrte noch immer, also warf er
sich den Sticker ein und kaute ihn solange, bis er sich aufgelšst hatte, den Geschmack
nach Steak und den Kalorienschub genie§end. Der Erfinder der essbaren
Routing-Etiketten hatte Whuffie im †berfluss: Adrians Mam kannte jemanden, der
jemanden kannte, der ihn kannte und gesagt hatte, der Typ hŠtte einen ganzen
Unterwasser-Palast, in dem er sich austoben wŸrde.
Ein Wirrwarr von SchluckgerŠuschen erfŸllte seine Ohren, hervorgerufen durch die
Menge, die sich subvokal mit entfernten Freunden unterhielt. Adrian aalte sich im
warmen, simulierten Sonnenlicht, das vom Kuppeldach Ÿber ihm ausstrahlte. Er wŸrde
die Kuppel innerhalb von Minuten verlassen haben, und es beschlich ihn der Verdacht,
dass ihm allzu bald hŸbsch kalt sein wŸrde. Er betastete seinen kleinen Rucksack, um

sicherzugehen, dass er seinen kuttenartigen †berwurf mithatte.
Er kŠmpfte sich den Weg durch das GewŸhl die Bay Street hinunter zu den FŠhrendocks.
Abwesend blŠtterte er durch sein šffentliches Verzeichnis und sah das Zeug durch, das er
in der Nacht gesammelt hatte. Es hatte natŸrlich alles zu verschwinden, aber einiges
wollte er vorher noch abspielen. Das meiste davon war freilich Mist. Das
durchschnittliche Backup eines durchschnittlichen BŸrgers der Bitchun-Gesellschaft war
kaum interessant genug, ein Blitzbacken zu rechtfertigen. Es
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