Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen Züchtling | Page 2

Joseph M. Hägele
das freundliche
Himmelsblau.
In jenem Winkel lehnt der Exfourier, blättert in einem alten,
halbzerrissenen Gebetbuche und das höhnische Zucken der

Mundwinkel zeigt schon, daß er nicht betet, sondern critisirt, wenn er
auch nicht von Zeit zu Zeit über "den Thurm Davids, das elfenbeinerne
Gefäß und goldene Haus" seine Kasernenwitze losließe.
Neben ihm liegt Martin der Wirthssohn, das Gespenst des früheren
Schlosserlehrlings mit verzweiflungvoller Resignation lächelnd, wenn
er zu fühlen vermeint, wie der Tod langsam zu seinem Herzen steige.
Das Murmelthier fehlt auch nicht, sondern schnarcht den Faden des
Lebens weiter, während im weißen Nachtrocke und Pantoffeln leise
eine Gestalt mit gebräunter, von tiefen Leidenschaften durchwühltem
Gesichte auf und ab wandelt--der Spaniol, der vor kurzer Zeit mit dem
betrogenen und als Räuber zum zweitenmal verurtheilten Zuckerhannes
hier zusammentraf. Von Zeit zu Zeit steht der Spaniol düster sinnend
an einem Fenster, welches in das Straßenleben der Stadt hinabsehen
läßt und ein wilder Schmerz arbeitet in seinen Zügen. Draußen
Revolution, der erste Kanonendonner der "großen Zukunft" und er--mit
seinen himmelstürmenden Ansichten, seiner verzehrenden Thatkraft
und seinem brennenden Ehrgeize ein Sträfling, ein ohnmächtiger
Gefangener, ein gemeiner Verbrecher! ...
Kein Wunder, daß er heute nicht predigt; sein Stolz läßt ihm keine laute
Klage zu, aber er herrscht auch hier und würde nicht nur der Liebling
der meisten Beamten und Aufseher, sondern wohl auch der meisten
Mitgefangenen sein, wenn nur der kropfige Zuckerhannes nicht da
wäre und geplaudert hätte.
Doch diesen blutarmen Menschen um die sauerersparten Pfenninge
betrügen, das ist eine That, welche auch im Zuchthause nicht immer
Vergebung findet und weil der Betrogene den Spaniolen als Vater
seines ganzen Unglücks betrachtet, nichts von der Rechtfertigung
desselben hören mochte und bei der Mehrzahl der Sträflinge in der
ersten Zeit vollen Glauben fand, deßhalb neigte sich der Spaniol bisher
mehr den Hütern als den Gehüteten zu und soll neulich den ärgsten
Aufseher im Eifer für die Hausordnung überboten haben.
Wenn er naht, verstummen die Meisten, aus ihren Blicken kann er
Vieles lesen, heute mag er nicht predigen! ...

Der Zuckerhannes selbst liegt im Bette, athmet zuweilen schwer auf
und hustet krampfhaft, horcht auf die Reden einer kleinen Gruppe
seiner nähern Freunde, welche ganz in seiner Nähe sich niedergelassen
hat.
Da finden wir den einst so fröhlichen und lebendigen, jetzt immer
düstern und schwermüthigen Bläsi, aus der Pfalz, diesen unglücklichen
Dragoner, den das Schicksal so hart vom Gaule geworfen.
Neben ihm sitzt der Patrik von Hotzenwald, dieser rohe, ungehobelte,
doch gutmüthige und witzige Spitzbube, der immerhin noch mehr
werth ist, denn sein Nachbar, der Donat, dessen Geschichte deutlich
zeigt, was aus einem Menschen ohne Erziehung, Geld und Religion
werden kann, wenn der Stachel der Genußsucht tief im Fleische mit
seinen lüsternen Schwingungen steckt.
Diese Leute hören dem Duckmäuser zu, welcher keine Gelegenheit
fand, dem Zuckerhannes Gutmachgeld zu senden und sich jetzt nach
Bruchsal gemeldet hat, weil er voraussieht, sein einziger Freund werde
nicht mehr mit dem Leben davonkommen. Den langwierigen
Todeskampf des Unglücklichen darf und mag er nicht ansehen, mag
nicht erleben, daß eines Tages ihm das Glöcklein verkündiget, der
Hegäuer habe ausgelitten und die letzte Freude des lebenslänglich
Verurteilten habe ein Ende. Lieber will er allein, ganz allein in einer
Zelle leben, denn er hat zwar als Bube betrogen und gestohlen, bei den
Soldaten böse Streiche gemacht und zuletzt seinen Vater ermordet,
doch ein grundverdorbener Mensch ist er bei alledem nicht und wer
seine tragische Geschichte kennt, wie der Zuckerhannes dieselbe aus
seinem eigenen Munde hörte oder dazu noch schwarz auf weiß von
seiner eigenen Hand besaß, der kann diesen Unglücklichen nicht mehr
verachten, er muß ihn bemitleiden und begreift, daß ein solcher Mensch
mitten unter Sträflingen jahrelang vereinsamt lebte und Sehnsucht nach
der Zelle empfindet.
Was er jetzt dem verunglückten Dragoner, dem ungeschlachten Patrik
und dem leichtsinnigen Donatle erzählt, sind nur Bruchstücke und der
Zuckerhannes könnte Manches dagegen einwenden, weil er den am
Hochmuth laborirenden Duckmäuser auswendig und inwendig sammt

der ganzen Geschichte desselben zu kennen vermeint und findet,
derselbe wasche sich viel weißer als er sei ... Man mag sagen, was man
will, der Mensch ist ein geborner Aristokrat, denn Jeder will schöner,
reicher, gescheider [gescheidter], vornehmer und besser sein, wie der
Andere, jeder sucht bei Andern soviel als möglich zu gelten und
vertuscht, heuchelt, lügt, mag er Bettler oder Graf oder noch mehr sein;
die Sträflinge bleiben auch hierin Menschen und die Wenigen, die es
dahin gebracht haben, mit Sünden, Lastern und Verbrechen groß zu
thun, sind eigentlich verkehrte Menschen, Unmenschen! ... Der
Vatermörder ist kein Unmensch; schon die Erzählung, welche er seinen
Kameraden zum Besten gibt, verräth dem Eingeweihten die Sucht,
nicht schlecht sondern so gut als möglich zu erscheinen, und wir
glauben, die wahre Geschichte desselben beweise, der arme Tropf sei
wirklich unserer Achtung und noch mehr unserer Theilnahme würdig,
seine Geschichte eine sehr lehrreiche Alltagsgeschichte aus den
niederen Volksklassen.

#DER DUCKMÄUSER ALS SCHULBUBE.#
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