Wie Wiselis Weg gefunden wird Erzahlung | Page 2

Johanna Spyri
Januarabend, da vor Kälte die
Schlittenbahn laut knisterte unter den Füßen der Kinder und der Schnee
nebenan auf den Feldern so hart gefroren war, daß man hätte darauf
fahren können wie auf einer festen Straße. Die Kinder aber waren alle
glühend rot und heiß dazu, denn eben waren sie im angestrengten Lauf
den ganzen Berg hinaufgelaufen und hatten ihre Schlitten nachgezogen.
Und nun wurden die Schlitten rasch gewendet, die Kinder stürzten sich
darauf, denn es hatte Eile. Drüben stand schon hell der Mond am
Himmel, und die Betglocke hatte auch schon geläutet.
Die Buben hatten aber alle gerufen: "Noch einmal! Noch einmal!" Und
die Mädchen waren einverstanden. Aber beim Aufsitzen gab es eine
Verwirrung und einen großen Lärm. Drei Buben wollten durchaus auf
demselben Platz mit ihren Schlitten stehen, und keiner wollte auch nur
einen Zentimeter zurückweichen und später abfahren. So drückten sie
einander auf die Seite hin, und der breite Chäppi wurde von den beiden
anderen so gegen den Rand des Weges hin gestoßen, daß er ganz in den
Schnee hineinsank mit seinem schweren Schlitten und fühlte, daß er
unter ihm stecken blieb.
Eine große Wut ergriff ihn bei dem Gedanken, daß die anderen nun

abfahren würden. Er schaute um sich. Da fiel sein Blick auf ein kleines,
schmales Mädchen, das neben ihm im Schnee stand. Es war ganz bleich
und hielt beide Arme in seine Schürze gewickelt, um es wärmer zu
haben. Aber es zitterte doch vor Frost an seinem ganzen dünnen
Körperchen. Das schien dem Chäppi ein passendes Wesen zu sein um
seine Wut daran auszulassen.
"Kannst du einem nicht aus dem Weg gehen, du lumpiges Ding? Du
brauchst nicht hier zu stehen, du hast ja nicht einmal einen Schlitten.
Wart nur, ich will dir schon aus dem Weg helfen." Damit stieß der
Chäppi seinen Stiefel in den Schnee hinein, um dem Kind eine
Schneewolke entgegenzuwerfen.
Es floh zurück, so daß es bis an die Knie in den Schnee sank, und sagte
schüchtern: "Ich wollte nur zusehen."
Der Chäppi stieß eben seinen Stiefel noch einmal in den Schnee, als ihn
von hinten eine so erschütternde Ohrfeige traf, daß er fast vom
Schlitten fiel. "Wart du!" rief er außer sich vor Erbitterung, denn sein
Ohr sauste, wie es noch kaum je gesaust hatte. Mit geballter Hand
drehte er sich um, seinen Feind zu treffen.
Da stand einer hinter ihm, der hatte eben seinen Schlitten zum
Abfahren zurecht gestellt. Er schaute nun ganz ruhig auf den Chäppi
nieder und sagte: "Probier's!" Es war Chäppis Klassengenosse, der
elfjährige Otto Ritter, der öfter mit dem Chäppi kleine
Meinungsverschiedenheiten auszutragen hatte. Otto war ein schlanker,
aufgeschossener Junge, lange nicht so breit wie der Chäppi. Aber dieser
hatte schon mehr als einmal erfahren, daß Otto eine merkwürdige
Gewandtheit in Händen und Füßen besaß, gegen die der Chäppi sich
nicht zu helfen wußte.
Er schlug nicht zu, aber die geballte Hand hielt er immer noch hoch,
und wuterfüllt rief er: "Laß du mich gehen, ich habe nichts mit dir zu
tun!"
"Aber ich mit dir", entgegnete Otto kriegerisch. "Was brauchst du das
Wiseli dorthinein zu jagen und es noch mit Schnee zu überschütten?

Ich habe es gesehen, du Feigling. Fällt über ein kleines Kind her, das
sich nicht wehren kann!" Damit kehrte er verächtlich dem Chäppi den
Rücken und wandte sich dem Schneefeld zu, wo das bleiche Wiseli
noch immer stand und zitterte. "Komm heraus aus dem Schnee, Wiseli",
sagte Otto mit Beschützermiene. "Siehst du, du klapperst ja vor Frost.
Hast du wirklich gar keinen Schlitten, und hast du nur zusehen müssen?
Da, nimm meinen und fahr einmal hinunter, schnell, siehst du, da
fahren sie schon."
Das bleiche, schüchterne Wiseli wußte gar nicht, wie ihm geschah.
Zwei-, dreimal hatte es zugeschaut, wie eines nach dem andern auf
seinem Schlitten saß, und gedacht: Wenn ich nur ein einziges Mal ganz
hinten aufsitzen dürfte. Nun sollte es allein hinunterfahren dürfen und
dazu auf dem allerschönsten Schlitten mit dem Löwenkopf vorn, der
immer allen anderen zuvorkam, weil er so leicht und hoch mit Eisen
beschlagen war.
Vor lauter Glück stand Wiseli ganz unschlüssig da und schaute nach
dem Chäppi, ob er es nicht vielleicht zu prügeln gedenke zur Strafe für
sein Glück. Aber der saß jetzt ganz abgekühlt da, so als wäre gar nichts
geschehen. Und Otto stand so schutzverheißend daneben, daß das
Wiseli seinen Mut zusammennahm, um sein Glück zu erfassen. Es
setzte sich wirklich auf den schönen Schlitten, und da nun Otto mahnte:
"Schnell, Wiseli, fahr ab", so gehorchte es, und hinunter ging's wie vom
Wind getragen.
In der kürzesten Zeit hörte Otto die ganze Gesellschaft wieder
herankeuchen, und er rief der Kleinen entgegen: "Wiseli, bleib unter
den Vordersten und sitz gleich noch einmal auf und fahr zu! Nachher
müssen wir gehen." Das glückliche Wiseli setzte sich noch einmal hin
und genoß noch einmal die langersehnte Freude.
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