Was die Großmutter gelehrt hat | Page 9

Johanna Spyri
einmal an und kam zurück gerannt. Es wollte sehen, was die Mutter beim Anblick von Manelis Kratten sagen wurde, der ja den ganzen Sommer lang nie so voll gewesen war. Durch die zerbrochenen Scheiben an dem niedrigen H?uschen konnte es alles sehen, was drinnen vorging. Die bleiche Mutter stand, von den kleinen Kindern umringt, am Tisch und schaute auf die Beeren im Kratten und auf den Teller daneben, der auch noch ganz voll war. Sie schlug ihre H?nde zusammen und sagte immer wieder zu dem Maneli, das freudestrahlend zu ihr aufschaute: "Wie ist es m?glich, Kind? Wie ist es nur m?glich?"
"Vom Trini, vom Trini!" wiederholte das Maneli drei-, viermal, "es hat sie mir alle gegeben, alle! Und denk, Mutter, für diese Menge gibt die Wirtin jetzt zwei ganze Franken."
"Gott vergelt's dem Kind und ersetz es ihm und der Gro?mutter hundertfach, was es heute für uns getan hat. Er wei? allein, wie ich mich die ganze Nacht hindurch gesorgt habe, wo ich am Morgen Brot für euch nehme. Und nun haben wir ja für einige Tage genug."
Die bleiche Frau hatte bei diesen Worten die H?nde gefaltet, als danke sie im stillen noch für die gro?e Wohltat. Jetzt scho? das Trini davon mit einer Freude im Herzen, wie es in seinem ganzen Leben noch keine empfunden hatte. Die Gro?mutter hatte wohl recht gehabt, da? man am Ende den Gewinn davon habe, und da? es einem so wohl werde wie noch nie, wenn man es recht verstehe, was der liebe Gott ausfegen wolle. Nun machte es noch neue Pl?ne in seinem Herzen: Bald konnte man auch in die Heidelbeeren gehen und in die Brombeeren. Und es wollte jedesmal, wenn es seinen Kratten gefüllt hatte, noch dem Maneli den seinigen füllen helfen. Wenn nicht beide voll wurden, so wollte es immer mit ihm teilen. Denn das Trini hatte sich über die Worte der armen, kranken Mutter mehr gefreut, als über den eigenen vollen Kratten. Als es dann endlich heimkam und nun aufgeregt seine Erlebnisse erz?hlte und zuletzt der Gro?mutter den ganz leeren Kratten vorwies, sagte es bittend: "Nicht wahr, du bist nicht b?se mit mir, Gro?mutter, da? ich kein einziges Beerlein heimbringe. Du wirst sie gewi? alle dem Maneli und seiner kranken Mutter g?nnen?"
Da lobte die Gro?mutter das Kind und sagte, was es getan habe, freue sie mehr, als wenn es ihr zwei ganze Kratten voll nach Haus gebracht h?tte. So gut wie heute abend dem Trini seine Kartoffelsuppe schmeckte, hatte ihm noch kein Essen geschmeckt. Denn es dachte immer daran, wie nun das Maneli noch sein Schwarzbrot hatte heimbringen k?nnen, wie jedes sein Stück bekomme und es gewi? jetzt eben fr?hlich verspeiste.

5. Kapitel
Wie es mit dem Vetter geht
Schon war der letzte Sommermonat, der warme August da. Auf allen B?umen gl?nzten die ?pfel rotgolden und kündeten den Herbst an. Der Vetter hatte nie wieder etwas von sich h?ren lassen. In der alten K?the stieg manchmal die freudige Hoffnung auf, er habe sein Vorhaben ge?ndert und denke nicht mehr an das Kind. Dann wurde es ihr so leicht ums Herz, als seien ihr alle Sorgen abgenommen, als k?nnte sonst kommen, was da wollte. Hunger und Mangel und Entbehrung aller Art werde sie ertragen, wenn sie nur das Kind nicht weggeben mü?te. Das Trini war fr?hlich wie ein Vogel vom Morgen bis zum Abend, es hatte den Vetter und seinen Wunsch schon lange vergessen.
Da trat eines Morgens ein junger Bursch bei der Waschk?the ein und sagte, er komme aus dem Reu?tal und habe ihrem Vetter versprochen, ihr eine Bestellung auszurichten. Der Vetter lasse ihr sagen, sie solle die Kleider und alles für das Kind bereithalten, er hole es ab, sobald er wegen seines Gesch?fts über den Berg müsse. Mit dem Vormund des Kindes wolle er dann schon alles in Ordnung bringen, was die Schule und den Lohn und das übrige betreffe. Der Gro?mutter wurde es vor Schrecken ganz schwarz vor den Augen, sie mu?te sich schnell setzen, um sich nur wieder ein wenig zu fassen. So war denn pl?tzlich gekommen, was sie freilich immer im stillen befürchtet, aber doch immer in so weiter, unsicherer Ferne gesehen hatte. Nun war es da, denn da? der Vormund gleich einwilligen und dem Vetter das Kind übergeben würde, dessen war sie sicher. Sie konnte ja für keinen Verdienst sorgen. Sie wu?te nicht einmal, wie lange sie sich selbst noch durchbringen konnte. Vielleicht fielen sie beide der Gemeinde zur Last. Der Vetter aber konnte einen so guten Verdienst in Aussicht stellen und für die Versorgung des Kindes für alle Zukunft garantieren. Es mu?te sein, das sah sie deutlich vor sich. Die alte K?the hatte schon viel Schweres erlebt. Aber das Weggeben dieses Kindes, das ihre ganze Freude und Stütze war, kam ihr vor, als wolle man ihr eines ihrer Glieder abrei?en, ohne das sie nicht mehr fortleben k?nnte.
Sie überdachte nun, wie
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 14
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.