Von Haparanda bis San Francisco | Page 2

Ernst Wasserzieher
bei vielen Reisenden. "Auf Reisen", so ungefähr
spricht sich Schopenhauer aus, "fühlt man sich interesselos, sieht man
von der eigenen Person ab, betrachtet man die Welt als Vorstellung."
Interesselos gebraucht Schopenhauer hier in dem Sinne wie Kant, der
das Schöne definiert als "das, was ohne Interesse gefällt" (d.h. ohne
selbstische Gedanken.) Noch ein zweites kommt hinzu: das Gefühl der
Unabhängigkeit. "Jetzt bist du zum ersten Mal allein," ruft George
Sand entzückt aus, "keine Seele weiß dich zu finden, jetzt bist du frei,
dir, dir ganz allein und den Geistern in dir überlassen!" Freilich stellt
sich auch wohl das Gefühl der Einsamkeit ein; das ist die Kehrseite
dieser selbstgewollten Freiheit. "Auch der leidenschaftlichste,
fröhlichste Reisende fühlt sich manchmal einsam in einer fremden
Stadt, und es giebt Augenblicke, in denen ihn eine unbeschreibliche
Langeweile beschleicht, sodaß, wenn er durch ein Wort einen Genius
aus 1001 Nacht heraufbeschwören könnte, um sich nach Hause tragen
zu lassen, er dieses Wort mit Freuden aussprechen würde." (Amicis,
Reise in Spanien, Capitel 2.) Lessing schlägt den Wert und das
Vergnügen des Reisens nicht hoch an. Freilich hatte er Italien unter den

denkbar ungünstigsten Verhältnissen und in großer Hast bereist. Er
bezeichnet treffend den weiten Abstand, der uns von dem 18.
Jahrhundert auch in dieser Beziehung trennt, er zeigt den ungeheueren
Fortschritt, den wir in der Kunst des Reisens gemacht haben; er hängt
zusammen mit der Ausbildung des Naturgefühls, wie wir sie seit
Goethe erfahren haben, der der verstandesmäßige Lessing und sein
Zeitalter wenig zugänglich waren. Doch, um nicht allzustolz zu werden,
brauchen wir bloß die Touristenschwärme zu betrachten, die sich von
den Bahnhöfen in die Hotels ergießen und von da mit dem roten
Bädeker in der Hand die Museen, Kirchen und Schlösser
überschwemmen und ausplündern, um am nächsten Tage in der
nächsten Stadt dasselbe Raubsystem fortzusetzen. Dann möchte man
dem feinsinnigen Sprachforscher und vielgewandten Reisenden Gustav
Meyer in Graz zustimmen, wenn er sagt: "Reisen ist eine Kunst, eine
größere vielleicht als eine Reise gut beschreiben." (Essays, II, 58.)

II.
Eine Primanerwanderung auf den Brocken.
(1878.)
Unter beständigem, feinem Regen wanderten wir, nachdem wir um 9
Uhr morgens mit dem Zuge von Magdeburg in Wernigerode
angekommen waren und einige Einkäufe besorgt, vor allem aber einen
Schnaps nicht vergessen hatten, nach Ilsenburg, von wo aus der
Brocken in Angriff genommen werden sollte. Im Grunde war es ein
seltsames Unternehmen, in dieser Jahreszeit--man schrieb den 12.
April--eine Harz- und Brockenreise zum Vergnügen zu unternehmen;
jedoch das war es gerade, was uns reizte.
Der Nebel lag so dicht auf der Erde, daß das Schloß Wernigerode, von
dessen Verschönerung durch Ausbau uns viel erzählt wurde, nicht zu
erblicken war; die Luft war trübe und feucht, und man wußte nicht, ob
man in Wolken ging oder ob es regnete; unser erster Grundsatz war
indes, den Humor nicht zu verlieren. Zur Erhöhung unserer Stimmung

kam noch hinzu, daß wir in einem ziemlich primitiven Kostüm steckten,
das aber einer Harzpartie ganz angemessen war, und als wir uns vor der
Stadt Auge in Auge gegenüberstanden und eine Weile betrachteten,
brachen wir wie auf Kommando in ein Gelächter aus. Die
vollgepfropfte Tasche an der Seite, darüber die Feldflasche an grüner
Schnur, im Munde die bemalte kurze Pfeife, zu der immer neuen Stoff
der am Knopfloch baumelnde Tabaksbeutel spendete, die Hosen hoch
gekrämpt und die Stiefel voller Schmutzsprenkeln--so sahen wir
wandernden Handwerksburschen täuschend ähnlich. Mein Freund
Edgar[1] trug einen Knüttel, ich einen Schirm, der sich durch eine
gewisse Altertümlichkeit auszeichnete.
Nachdem die Dörfer Altenrode und Drübeck, bei welch' letzterem der
"Wernigeroder" einer Probe unterworfen und für gut befunden wurde,
passiert waren, kamen wir bei etwas aufgeheitertem Himmel in dem
hübschen Ilsenburg an und verfügten uns in den Gasthof "Zu den drei
Forellen", um uns vor der Anstrengung noch einmal körperlich und
geistig zu stärken. Die körperliche Stärkung präsentierte sich als eine
Tasse Kaffee und unterschiedliche Eier; die geistige bestand aus einer
nochmaligen begeisterten Rezitation von Goethes "Harzreise im
Winter", die wir mitgenommen hatten, um sie an Ort und Stelle auf uns
wirken zu lassen.
Die Leute im Wirtshaus schüttelten den Kopf, als sie von unserem Plan
hörten, und meinten, der Schnee läge noch so hoch, daß es unmöglich
sei, bis zum Gipfel des Berges zu gelangen. Der Förster sagte, er sei
selbst gezwungen gewesen, umzukehren; es riet uns, lieber davon
abzustehen; umkehren müßten wir ja doch. Das waren ja schöne
Aussichten für uns; eine Partie à la Hannibal in verkleinertem
Maßstabe! Allein wir hatten uns einmal vorgenommen, heute Nacht in
Brockenbetten zu schlafen, und wollten unsern Kopf durchsetzen.
Insofern folgten wir jedoch unseren freundlichen Ratgebern, als wir
beschlossen, nicht durch das Schneeloch, sondern auf der Fahrstraße zu
gehen.
Mittlerweile war es zwei Uhr geworden, und wir warfen unsere
Taschen um. Zum Abschied rief uns der Förster halb spöttisch zu: Auf

Wiedersehen heute Abend beim Glase Bier!
Frohen Mutes pilgerten wir
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 62
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.