Wir werden dann weiter die 
Begebenheit selbst, die der Dichter uns erzählend vorführt, die 
Personen und Charaktere, die er in Handlung setzt, sowie die ganze Art 
der Darstellung und Behandlung näher ins Auge fassen. Auch die 
Diktion, der sprachliche Ausdruck, der Versbau gehört zur 
Charakteristik des Gedichts, sowie zum Schluß die Begleichung mit 
den beiden epischen Vorgängern unsres Gedichts in der deutschen 
Literatur, ich meine mit Klopstocks Messias und Voßens Luise dazu 
dienen wird, die Eigentümlichkeit und den Wert unsres Gedichts ins 
Licht zu setzen. Dies also der Faden, an dem unsre Betrachtung 
fortlaufen wird. 
Die inneren Gesetze der epischen Poesie werden wir nirgends sicherer 
erkennen und in reinerer Gestalt wiederfinden können, als bei dem 
Vater aller epischen Poesie, dem alten Homer. Das glückliche Volk der 
Griechen war ja so künstlerisch und poetisch organisiert, daß bei ihnen 
die einzelnen Gattungen der poetischen Idee sich in naturgemäßer 
Stufenfolge eine aus der andern entwickeln und sich selbst ihre 
notwendige Form erschufen, so daß die inneren Momente des Begriffs 
nirgends so rein mit der Wirklichkeit, die Poetik mit der Geschichte der 
Poesie zusammenfällt. Goethe selbst hatte, indem er Hermann und 
Dorothea dichtete, den Homer als Vorbild vor Augen und so ruft er 
eben mit Bezug auf seinen Hermann: 
Denn Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.
Wir werden also, indem wir die Grundzüge der epischen Poesie 
entwerfen, dies immer im Hinblick auf Homer thun. 
Epos, Wort, Sage ist die Poesie im Kindheitsalter der Völker, in den 
Anfängen der Geschichte. Die epische Poesie blüht in jener 
Morgendämmerung, wo ein Volk schon aus der Wildheit und 
Stumpfheit des ersten Naturdaseins zum Geiste erwacht ist, wo aber die 
geistigen und sittlichen Mächte noch nicht als etwas Bewußtes, klar 
Erkanntes und als eine abgesonderte feste Gewalt dem Menschen 
gegenüberstehen, sondern dieser auf ganz naive Weise mit dem 
sittlichen Gebot noch eins ist. Es gibt in dieser Periode zwar schon ein 
Staatsleben, aber noch nicht in Form bestimmter Gesetze und fester 
Rechte, die die Freiheit des Einzelnen zügeln. Jeder trägt vielmehr die 
politische Sitte in seiner eignen Brust und, indem er ihr folgt, weiß er 
nicht, daß es anders sein könnte. Gesetz und Empfindung sind noch 
nicht geschieden und die Empfindung ist es eben, die den politischen 
Zustand geschaffen hat. So ist Agamemnon zwar König, aber diese 
Herrschaft beruht auf keinem geschriebenen Gesetze. Wenn er den 
besten Anteil von der Beute erhält, so versteht sich dies bei jedem von 
selbst. An welchem Punkte seine Macht aufhört und die der 
Aristokratie, der Geronten und Basileis beginnt und die letztere wieder 
durch die Volksversammlung beschränkt wird, dies ist nicht durch feste 
Satzung bestimmt, sondern durch das Allgemeingefühl der Einzelnen 
von selbst gegeben. Eine durch Reflexion bestimmte, durch Beratung 
zu stande gebrachte geschriebene promulgierte Verfassung gibt es nicht; 
die politische Ordnung hat keinen andern Boden als die unbefangene 
Gesinnung aller. Ebenso ist auch das Recht und die Rechtspflege nicht 
eine für sich bestehende Welt; die Bestimmungen derselben sind 
schwankend; es hat keine andre bindende Form, als die ihm durch das 
unmittelbare Volksleben, durch das Rechtsgefühl und den 
Billigkeitssinn gegeben wird. Hat einer z. B. einen Mord begangen, 
was bei dem frischen Dasein der homerischen Menschen nichts 
Seltenes ist, so sucht er die Familie des Getöteten durch eine Buße zu 
versöhnen oder er verläßt fliehend die Heimat: eins oder das andre 
macht ihm die Sitte zur Pflicht. Streiten zwei um ein Gewicht Goldes, 
so bildet das Volk im Freien einen Kreis, die Greise als Richter sitzen 
auf erhöhten steinernen Stufen, das Szepter als Zeichen richterlichen
Ansehens und erfahrener Weisheit in der Hand: hin und her wird 
gestritten, das Volk fällt von beiden Seiten schreiend ein, die Herolde 
gebieten Ruhe; endlich geben die Greise nach eigenem Sinne und 
unmittelbarem Wahrheitsgefühl die Entscheidung. So ist auch das 
Kriegswesen der homerischen Zeit ohne äußerlich zwingende Norm 
und gestaltet sich aus dem Grunde des in allen Teilnehmern lebenden 
kriegerischen Sinnes. Keine Disziplin braucht wie in späteren Zeiten 
die widerstrebende Willkür der Individuen zu zügeln; wenn sich die 
Reihen fest zusammenschließen, wenn ein Kämpfer dem andern hilft, 
wenn um den Leichnam des Gefallenen die Ueberlebenden rettend und 
schirmend sich scharen, so geschieht dies nicht nach Befehl, sondern 
durch eine innere Nötigung, die jeden von selbst drängt. So handelt in 
diesem epischen Zeitalter das Individuum ganz naiv und unbewußt 
nach dem Zuge seiner Menschlichkeit; es ist von dem Volksgeist in 
allem, was es thut und fühlt, bestimmt und in den allgemeinen Mächten, 
die das Leben und die Sitte bilden, völlig enthalten. Es sind mit einem 
Worte objektive, substanzielle Menschen. So wie nun in einer späteren 
Periode der Geschichte die Trennung des Subjekts von der Substanz 
vor sich geht, treten wir aus der spezifisch epischen Welt heraus. Das 
Gemüt und die Gesinnung des Einzelnen sind nicht mehr im Einklang 
mit dem Geltenden: was früher bei seinem Thun eine innere    
    
		
	
	
	Continue reading on your phone by scaning this QR Code
 
	 	
	
	
	    Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the 
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.
	    
	    
