Man Kann Nie Wissen | Page 2

George Bernard Shaw
trotzdem besteht für einen sehr feinen Beobachter ein Zusammenhang zwischen der jungen Dame und England. Sie h?lt n?mlich ein Wasserglas in der Hand, und auf ihrem winzigen, energisch geschnittenen Mund wie auf ihren eigentümlich geschweiften Augenbrauen bemerkt man eine sich rasch verziehende Wolke spartanischer Hartn?ckigkeit. Wenn man die kleinste Gewissenslinie zwischen ihren Augenbrauen entdecken k?nnte, würde ein Pietist wohl die schwache Hoffnung hegen, in ihr ein Schaf im Wolfspelz zu finden--ihr Kleid ist n?mlich verwünscht hübsch--aber sowie die Wolke flieht, ist ihre Stirnlinie so vollkommen frei von jedem Sündenbewu?tsein wie die eines K?tzchens.)
(Der Zahnarzt, der sie mit der Selbstzufriedenbeit des erfolgreichen Operateurs betrachtet, ist ein junger Mann von ungef?hr drei?ig Jahren. Er macht nicht sehr den Eindruck eines Arbeitsmenschen: unter der gesch?ftsm??igen Art und Weise des neuetablierten Zahnarztes, der auf der Suche nach Patienten ist, bemerkt man die leichtsinnige Liebenswürdigkeit des noch unverheirateten, auf der Suche nach lustigen Abenteuern befindlichen jungen Mannes von Welt. Er ist nicht ohne Ernst im Benehmen, aber seine straff gespannten Nasenflügel stempeln diesen zum Ernste eines Humoristen. Seine Augen sind klar, flink, von skeptisch m??iger Gr??e und doch ein wenig wagelustig; seine Stirn ist pr?chtig, hinter ihr ist viel Raum; seine Nase und sein Kinn sind kavalierm??ig hübsch. Im ganzen ein anziehender, beachtenswerter Anf?nger, dessen Aussichten ein Gesch?ftsmann ziemlich günstig einsch?tzen würde.)
(Die junge Dame ihm das Glas reichend:) Danke sch?n. (Trotz ihrer mattgelben Hautfarbe spricht sie ohne den geringsten fremden Akzent.)
(Der Zahnarzt setzt es auf den Rand des Instrumentenschrankes:) Das war mein erster Zahn!
(Die junge Dame entsetzt:) Ihr erster?!... Wollen Sie damit sagen, da? Sie an mir angefangen haben, zu praktizieren?
(Der Zahnarzt.) Jeder Zahnarzt mu? einmal mit jemandem den Anfang machen.
(Die junge Dame.) Jawohl, mit jemandem im Spital--aber nicht mit Leuten, die bezahlen.
(Der Zahnarzt lachend:) Oh, das Spital z?hlt natürlich nicht!... Ich meinte nur: mein erster Zahn in meiner Privatpraxis.--Warum wollten Sie kein Lachgas haben?
(Die junge Dame.) Weil Sie mir sagten, da? das noch fünf Schilling extra kostete.
(Der Zahnarzt unangenehm berührt:) Oh, sagen Sie das nicht! Da hab' ich das Gefühl, als h?tte ich Ihnen wegen der fünf Schillinge weh getan.
(Die junge Dame mit kühler Dreistigkeit:) Nun, das haben Sie auch. (Sie steht auf:) Warum auch nicht?... Es ist Ihr Beruf, den Leuten weh zu tun. (Es macht ihm Spa?, in dieser Weise behandelt zu werden, und er kichert heimlich, w?hrend er fortf?hrt, seine Instrumente zu reinigen und wieder wegzulegen. Sie schüttelt ihr Kleid zurecht, blickt sich neugierig um und gebt an das Fenster.) Sie haben aber wirklich eine sch?ne Aussicht auf das Meer von diesen Zimmern aus! --Sind sie teuer?
(Der Zahnarzt.) Ja.
(Die junge Dame.) Ihnen geh?rt aber nicht das ganze Haus?
(Der Zahnarzt.) Nein.
(Die junge Dame kippt den Stuhl, der vor dem Schreibtisch steht, um und betrachtet ihn kritisch, w?hrend sie ihn auf einem Fu? herumwirbelt:) Ihre Einrichtung ist aber nicht die allermodernste; nicht wahr?
(Der Zahnarzt.) Sie geh?rt dem Hausherrn.
(Die junge Dame.) Geh?rt ihm dieser hübsche bequeme Rollstuhl auch? (Sie zeigt auf den Operationsstuhl.)
(Der Zahnarzt.) Nein, den habe ich gemietet.
(Die junge Dame geringsch?tzig:) Das habe ich mir gedacht! (Sie blickt umher, um noch mehr Schlüsse ziehen zu k?nnen:) Sie sind wohl noch nicht lange hier?
(Der Zahnarzt.) Seit sechs Wochen.--Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen?
(Die junge Dame, an der die Anspielung verloren gebt:) Haben Sie Familie?
(Der Zahnarzt.) Ich bin unverheiratet.
(Die junge Dame.) Selbstverst?ndlich. Das sieht man.--Ich meine Schwestern... eine Mutter... und sowas.
(Der Zahnarzt.) Nicht hier am Ort.
(Die junge Dame.) Hm... Wenn Sie sechs Wochen hier sind und mein Zahn der erste war, dann kann Ihre Praxis nicht sehr gro? sein?
(Der Zahnarzt.) Bis jetzt nicht. (Er schlie?t den Schrank, nachdem er alles in Ordnung gebracht hat.)
(Die junge Dame.) Nun denn, Glück auf! (Sie nimmt ihre B?rse aus der Tasche:) Fünf Schillinge macht es, sagten Sie, nicht wahr?
(Der Zahnarzt.) Fünf Schillinge.
(Die junge Dame nimmt ein Fünf-Schilling-Stück heraus:) Rechnen Sie für jede Operation fünf Schillinge?
(Der Zahnarzt.) Ja.
(Die junge Dame.) Warum?
(Der Zahnarzt.) Das ist mein System. Ich bin eben, was man einen Fünf-Schilling-Zahnarzt nennt.
(Die junge Dame.) Wie nett!--Hier! (Sie h?lt das Silberstück in die H?he:) Ein hübsches neues Fünf-Schilling-Stück--Ihre erste Einnahme! Machen Sie mit dem Instrument, mit dem Sie den Leuten die Z?hne anbohren, da ein Loch hinein und tragen Sie's an Ihrer Uhrkette.
(Der Zahnarzt.) Danke sehr.
(Das Stubenm?dchen erscheint an der Tür:) Der Bruder der jungen Dame.
(Die hübsche Miniaturausgabe eines Mannes, augenscheinlich der Zwillingsbruder der jungen Dame, tritt lebhaft ein. Er tr?gt einen terrakottfarbenen Kaschmiranzug; der elegant geschnittene Rock ist mit brauner Seide gefüttert. In der Hand h?lt er einen braunen Zylinder und dazu passende, loh*braune Handschuhe. Er hat die mattgelbe Gesichtsfarbe seiner Schwester und ist nach demselben kleinen Ma?stabe gebaut wie sie. Aber er ist elastisch, muskul?s und von entschlossenen Bewegungen und hat eine unerwartet tiefe und schneidige Sprechwiese. Er besitzt vollendete Manieren und einen vollendeten pers?nlichen Stil, um den ihn ein doppelt so alter Mann beneiden k?nnte.
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